Wie kam es zu Aschura?
Um die Bedeutung von Aschura zu verstehen, genügt es schon zu wissen, dass auch noch 14 Jahrhunderte nach dieser Tragödie der Helden dieses Ereignisses, nämlich Imam Husains (F) und seiner treuen Helfer auf der Welt gedacht wird und Schiiten und Sunniten und viele Autoren im Westen und Osten sich mit diesem Ereignis beschäftigt und darüber geschrieben haben.
Jeder Forscher und Autor hat aus seiner speziellen Sichtweise und Motivation heraus die Dimensionen sowie Auswirkungen des Aufstandes von Prophetenenkel Imam Husain (F) betrachtet. Zumeist sind dabei aber die Hintergründe für diesen Aufstand zu kurz gekommen und blieb folgende Frage offen: Wie war es möglich, dass der Umayyadenkalif Yazid nur 50 Jahre nach dem Verscheiden des geehrten Propheten des Islams (Gottes Segen sei auf ihm und Friede seinem Hause) unterstützt von einer großen Schar von so genannten Muslimen die erschütternde Tragödie von Aschura verursachen und der breiten Masse weismachen konnte, Husain (F) und seine Helfern seien keine Muslime mehr. Yazid ließ die Hinterbliebenen des Prophetenhauses in einem Gefangenenzug von Kerbala im Irak nach Damaskus bringen und diese wurden Zeuge wie in jeder Stadt die geprellten Muslime die Ermordung des Prophetenenkels und die Gefangennahme seiner Familie feierten. Schon bald nach der Tragödie von Aschura haben die Horden der umayyadischen Armee die Prophetenstadt Medina und die Heilige Ruhestätte des Propheten gestürmt und ein großes Massaker unter der Bevölkerung angerichtet, ihre Frauen misshandelt und schließlich sogar das Haus Gottes in Mekka – die Kaaba, welche die Gebetsrichtung für die Muslime ist, in Brand gesteckt. Worauf ging alle diese Gewalt gegen die Prophetenfamilie und ihre Anhänger geschichtlich zurück?
Hätten die Soldaten der damaligen Imperien, nämlich des Persischen und Römischen Reiches und gegnerische Anhänger anderer Religionen dieses Unheil angerichtet, dann wäre es nicht so verwunderlich. Aber die Gewalttaten erfolgten seitens einer Gruppe von Leuten , die im Namen des Islams über die Muslime herrschten und diese Leute haben unterstützt von zahlreichen zweifelhaften Anhängern des Islams grausam den edlen Nachkommen des Propheten des Islams und seine besten Helfer niedergemetzelt. Dies sind Tatsachen, deren Ursprünge man nachgehen muss. Was war der Ausgangspunkt für diese schlimme Entwicklung? Wer hat den Grundstein für die Besudelung der Islamischen Geschichte mit diesem Schandfleck gelegt?
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Vor der Suche nach einer Antwort ist folgender Gedankengang notwendig:
Der Mensch begegnet auf der Welt laufend Ereignissen: in der Natur und Gesellschaft, in Politik, Kultur, Wirtschaft und Geschichte. Er sollte sich dabei bewusst werden, dass alle Ereignisse dem Gesetz der Kausalität gehorchen, nämlich dem Gesetz von Ursache und Folge. Kein nachdenklicher Mensch bleibt bei dem Äußeren von Ereignissen stehen sondern an Hand versucht er die Ursachen zu erschließen. Auf diese Weise gelangt er zu Erkenntnissen und Wahrheiten, die oberflächlich urteilende Leute nicht sehen. Newton zum Beispiel hat sich angesichts eines Apfels der vom Baum fiel, gefragt, warum das passiert. Dank seines wissensbegierigen Geistes und einer Reihe von Untersuchungen und dieses Hinterfragens konnte er das Gravitationsgesetz entdecken.
Der Heilige Koran fordert laufend seine Anhänger auf, nach den Ursachen aller Dinge zu suchen und nachzuforschen, was sich unter der Oberfläche verbirgt. Sie sollen dank des richtigen Verständnisses von der Daseinswelt den rechten Weg wählen, ihrem Leben einen Sinn geben und sich durch diese Denkweise und Kenntnis vor Zweifeln, Wankelmut und Resignation absichern.
Der Koran macht auf historische Erfahrungen der Völker aufmerksam. An vielen Stellen im Koran - diesem Buch, das zum tieferen Nachdenken anregt - spricht Gott über die Geschichte des Untergangs und des Aufstiegs von Gemeinschaften und Völkern. Zweifelsohne dienen die historischen Berichte des Korans nicht der Unterhaltung, sondern sollen vielmehr dazu anregen, dass die Menschen Ereignisse untersuchen und ihre Ursachen feststellen, um die Wiederholung bitterer historischer Erfahrungen zu verhindern.
Wenn der Koran die Geschichte der Völker, insbesondere die der Israeliten, vor Augen führt und sie hervorhebt, muss es einen Grund dafür geben und dieser wird ersichtlich, wenn wir die Ursachen der geschichtlichen Ereignisse kennen. Sie zu hinterfragen ist für das Schicksal der Islamischen Welt von großer Bedeutung. Der Prophet des Islams (Gottes Segen sei auf ihm und den Edlen aus seinem Hause) hat einmal zu den Muslimen gesagt: „ Ihr wiederholt die Art und die Traditionen der vergangenen Völker. Selbst wenn diese durch ein Eidechsenloch gegangen sind, werdet auch ihr dieses Loch betreten.“ Einige fragten: „O Prophet Gottes (S) meint ihr mit den vergangenen Völkern die Juden und Nazarener?“ Er sagte: „Wer sollte es denn sonst sein? Ihr werdet die Haltegriffe des Islams einen nach dem anderen zerbrechen. Das erste was ihr zerbrechen werdet, ist das Amanat – das anvertraute Gut – und das letzte das Ritualgebet!“
(aus Al-Mizan Koranexegese)
In der Tat haben die Schriftbesitzer in der Geschichte die Bündnisse mit Gott eines nach dem anderen zerbrochen und da einige Muslime in seiner Zeit die Anhänger vorheriger Schriftreligionen blind nachahmten hat er zu ihnen gesagt: „Ihr werdet die Haltegriffe des Islams einen nach dem anderen zerbrechen.“ Der Prophet verheißt diesen Muslimen daraufhin: „Das erste was ihr zerbrechen werdet ist das Amanat – das anvertraute Gut –.“
Gott mahnt im Vers 27 der Sure 8 (Anfal) vor Verrat. Es heißt dort:
„O die ihr glaubt, verratet nicht Allah und den Gesandten, und handelt nicht verräterisch in Bezug auf die euch anvertrauten Güter, wo ihr wisset!“
Diese Koranstelle enthält wichtige Punkte. Erstens spricht Gott hier nicht die Ungläubigen und die Götzenanbeter an. Hätte er das getan, wäre es nicht verwunderlich, denn es wäre klar, dass diese Verrat gegen Allah und den Gesandten begehen. An diesem Vers verwundert also zunächst dass Gott die Anrede „O die ihr glaubt“ verwendet. Er mahnt hier Gläubige, die eventuell bereit sind Gott und den Propheten verraten. Unter Heranziehung einiger anderen Verse kommt man zu dem Schluss dass Gott im obigen Vers indirekt die Heuchler anspricht, also Schein-Muslime. Im Vers 8 und 9 der Sure 2 (Baqara) hat Er über sie gesagt:
„Unter den Menschen gibt es manche, die sagen: „Wir glauben an Allah und an den Jüngsten Tag“, doch sind sie nicht gläubig.“
„Sie möchten Allah und diejenigen, die glauben, betrügen. Aber sie betrügen nur sich selbst, ohne (es) zu merken.“
Es kann in der Tat nicht zutreffen, dass jemand aufrichtig und bewusst glaubt und gleichzeitig gerne Gott und den Propheten betrügen will. Das passt nicht zusammen und wer so ist, ist ein Heuchler.
Kommen wir noch einmal auf den Vers 27 in der Sure 8 zurück wo es heißt:
„O die ihr glaubt, verratet nicht Allah und den Gesandten, und handelt nicht verräterisch in Bezug auf die euch anvertrauten Güter, wo ihr wisset!“
Man sollte auf den Passus „wo ihr wisset“ achten. Er signalisiert, dass Schein-Muslime nicht aus Unwissenheit sondern ganz bewusst Verrat an Gott und dem Propheten begehen.
Außerdem erfolgt in diesem Vers der Sure 8 die Mahnung nicht verräterisch mit den anvertrauten Gütern umzugehen!
Hier taucht die wichtige Frage auf, was mit anvertrauten Gütern gemeint ist.
Die Koranexegeten haben verschiedene Beispiele für die Deutung dieses Begriffs genannt wie politische und militärische Geheimnisse und geheimes Wissen und sie haben auf das Vorgehen des Propheten mit Amanat – mit anvertrauten Gütern - hingewiesen . Das vielleicht eindeutigste Beispiel für Amanat ist jedoch in der folgenden geläufigen Überlieferung des Propheten zu suchen. Er hat zu seinen engsten Helfern gesagt
„Ich werde vor euch (am Paradies) und am (Kauthar) – Brunnen angelangen und auch ihr werdet in der Zukunft (wenn ihr rechtschaffen seid) an diesem Brunnen bei mir eintreffen. Ich hinterlasse zwei Kostbarkeiten als anvertraute Güter unter euch. Gebet Acht, wie ihr nach mir mit diesen beiden (anvertrauten) Kostbarkeiten umgeht.“
Da rief jemand: „O Prophet Gottes! Was sind die beiden (anvertrauten) kostbaren Güter?“ Der Prophet sprach (S): „Eines ist das große Gewichtige – nämlich das Buch Gottes dessen eine Kante in der Hand Gottes, des Allmächtigen und Herrlichen, und dessen andere Kante in eurer Hand liegt. Haltet es gut fest, damit ihr nicht abirrt! Das andere (das kleine Gewichtige) ist die Familie meines Hauses, und Gott der Hocherhabene hat mich wissen lassen, dass sich diese beiden (Gewichtigen und anvertrauten Güter) bis zu meinem Eintreffen am Kauthar-Brunnen nicht voneinander trennen. Ich habe meinen Herrn gebeten, dass diese beiden so sein mögen und nie auseinandergehen. Eilt ihnen nicht voraus, denn dann werdet ihr zugrunde gehen und wendet euch nicht von ihnen ab, denn dann werdet ihr vernichtet.“
(Quelle: Gazideh al Ghadir, S. 43)
Wer mehr über die Vorgeschichte von Aschura erfahren möchte, der kann sich unsere Beiträge 34 bis 39 aus der Reihe Lotsen zum göttlichen Hafen anschauen.