Mehr Sicherheit durch Atomwaffenverbot
(last modified Fri, 29 Apr 2022 09:51:46 GMT )
Apr 29, 2022 11:51 Europe/Berlin
  • Mehr Sicherheit durch Atomwaffenverbot

Weshalb das Konzept gemeinsamer Sicherheit die glaubwürdigste Alternative zur Kriegspolitik darstellt und ein friedliches Zusammenleben der Völker garantiert?

Mohssen Massarrat

 

Die indirekte russische Drohung des Einsatzes von Atomwaffen im laufenden Ukraine-Krieg beweist erneut die Dringlichkeit eines Atomwaffenverbots. Im Januar 2021 trat der UN-Atomwaffen-Verbotsvertrag in Kraft. Er ist inzwischen von 86 Staaten unterzeichnet worden. Dennoch droht die Gefahr, dass er über kurz oder lang im Papierkorb der UNO verschwindet.

Denn ohne die Zustimmung der fünf Atommächte – USA, Russland, Volksrepublik China, Großbritannien und Frankreich – hätte das Vertragswerk keine praktische Bedeutung für die Schaffung einer nuklearfreien Welt.

Und es gibt bisher auch keinerlei Anzeichen dafür, dass diese Atomstaaten ihr Monopol an Nuklearwaffen freiwillig aus der Hand geben würden. Trotz der scheinbaren Aussichtslosigkeit erscheint bei genauerem Hinsehen jedoch eine realistische Chance für eine umfassende nukleare Abrüstung denkbar. Diese optimistische Perspektive lässt sich mit zwei sich ergänzenden Entwicklungen stützen, deren Zeugen wir gegenwärtig werden.

Erstens: Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat der Perspektive einer gemeinsamen Sicherheit mit Russland in Europa erheblichen Schaden zugefügt, sie jedoch ganz und gar nicht obsolet gemacht.

Putin hat 2014 völkerrechtswidrig die Halbinsel Krim annektiert. Und er hat Ende Februar dieses Jahres einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen. Liefern aber diese Aggressionen den Persilschein für die im Grunde "hirntote" und nun dank Putin wiederauferstandene Nato?

Die mit Kriegen und Völkerrechtsverletzungen durchzogene Geschichte des Nordatlantikpaktes belegt, dass er weder für die Sicherheit Europas noch für die Sicherheit in der Welt eine glaubwürdige Alternative verkörpert.

Die Nato hat zur Entstehung des Kalten Krieges und zum nuklearen Wettrüsten erheblich beigetragen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde sie praktisch in den Dienst der US-amerikanischen Vorherrschaft in der Welt gestellt und als ein äußerst wirksames Instrument zur rasanten Steigerung der Rüstungsaufträge für den militärindustriellen Komplex der USA missbraucht.

Reagans und Gorbatschows Pläne sind gescheitert

Statt die von Ronald Reagan und Michael Gorbatschow in den 1990er-Jahren begonnenen nuklearen Abrüstung zu Ende zu führen, wurde diese Demilitarisierung gestoppt. Die USA haben seit 1990 in zahlreichen Ländern – so 1993 in Somalia, 1999 in Jugoslawien, 2001 in Afghanistan, 2003 im Irak, 2011 in Libyen und 2014 in Syrien – Kriege geführt und dabei die Nato-Staaten mit hineingezogen.

Die meisten dieser Kriege waren völkerrechtswidrig, lieferten somit eine Blaupause für Russlands Angriff auf die Ukraine. Wäre das von Willy Brandt und Egon Bahr entwickelte Konzept der gemeinsamen Sicherheit mit Russland und Gorbatschows Vorschlag des "gemeinsamen europäischen Hauses" umgesetzt worden, wäre die Menschheit mit den russischen Kriegen in der Ukraine niemals konfrontiert worden.

Mit ihrem sinnlosen Krieg in Jugoslawien haben die USA die ersten Ansätze einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur mit Russland bewusst zerstört, um die Legitimation der Nato nicht zu gefährden.

Auch Putins Aggressionskriege sind nicht vom Himmel gefallen, sie sind nachweislich das Resultat des durch die Nato gezogenen Sicherheitsgürtels um Russland. Wäre es gerade aufgrund der unglaublichen Vertiefung der sicherheitspolitischen Gegensätze in Europa, derer wir gegenwärtig schmerzhaft gewahr werden, abwegig anzunehmen, dass die USA Putins Krieg gegen die Ukraine – so perfide und menschenverachtend ein solches Kalkül auch erscheint – mit ihrer Russlandpolitik geradezu heraufbeschworen haben?

Nein, das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit für Europa ist heute aktueller denn je. Es beruht auf der Idee von Kooperation und auf dem Verständnis, das die Sicherheit jedes Landes strukturell an die Sicherheit des anderen Landes koppelt ist.

Diese seit der deutschen Ostpolitik längst bekannte Friedensidee müsste nicht nur für Europa und Russland, sondern auch für Asien und China, für den Mittleren Osten und Iran sowie Israel sowie für alle anderen Weltregionen das Friedensthema ersten Ranges sein.

Forderung nach Nato-Austritt muss Alternativen benennen

Diese Sicherheitsstrategie ist perspektivisch auch die konsequenteste Antwort auf die Nato und jegliche auf Konfrontation zielenden Sicherheitsbündnisse.

Denn sie hebt die politische Forderung eines Nato-Austritts, die keine Alternative benennt und deshalb bisher auch nie mehrheitsfähig werden konnte, auf: Das Konzept gemeinsamer Sicherheit stellt die glaubwürdigste Alternative zur Kriegspolitik dar und garantiert ein friedliches Zusammenleben der Völker.

Zweitens: Gemeinsame Sicherheit verbessert auch fundamental die Voraussetzungen für die nukleare Abrüstung. Es ist zwar richtig, dass die USA mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, wenn überhaupt, die letzten sein werden, die bereit wären, ihre Nuklearmacht und damit jene darauf beruhende Hegemonialmacht freiwillig zur Disposition zu stellen.

Russland und die Volksrepublik China sind dagegen beide potenzielle Befürworter des Konzepts gemeinsamer Sicherheit – und sie wären auch die großen Gewinner einer nuklearwaffenfreien Welt.

Allerdings ist diese Perspektive nur denkbar, wenn diese Nuklearmächte bei den Verhandlungen für die Schaffung einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur ihre Bereitschaft zur nuklearen Abrüstung glaubwürdig unter Beweis stellten.

Denn kein Land – weder in Europa noch in Asien – wäre bereit, sich ohne die perspektivische Überwindung seiner nuklearen Überlegenheit mit diesen Staaten auf eine gemeinsame Sicherheit einzulassen.

Je weiter die Perspektive einer Gemeinsamen Sicherheitsarchitektur in Europa mit Russland und in Asien zwischen Japan, Südkorea sowie anderen westlich orientierten Staaten Asiens mit China voranschreitet, desto wahrscheinlicher wird auch, dass die Befürworter einer nuklearen Hegemonie der USA die politische Legitimation verlieren und gezwungen sind, sich auf nukleare Abrüstung einzulassen.

So gesehen öffnet die Gemeinsame Sicherheit also ein Fenster für nukleare Abrüstung, und sie ist daher auch ein Schlüssel zu einer Strategie, Sicherheit neu zu denken.

Gerade wegen ihrer systemsprengenden Wechselwirkungen sollten gemeinsame Sicherheit und Atomwaffenverbot zusammen gedacht werden.

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Quelle: https://www.heise.de/-7063471

Anmerkung: Veröffentlichung des Artikels durch den Autor selbst autorisiert

Zur Person:

Mohssen Massarrat ist emeritierter Professor für Politik und Wirtschaft am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück mit den Forschungsschwerpunkten Naher und Mittlerer Osten, Energie, Friedens- und Konfliktforschung sowie Nord-Süd-Konflikt. Massarrat war zudem Vertrauensdozent der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Heinrich-Böll-Stiftung.