Volkstümliche Erzählungen aus Iran-Teil 19
Wir haben in den letzten Beiträgen über zwei Arten der volkstümlichen Literatur des Irans gesprochen, nämlich über das Matal und das Mathal.
In diesem Teil möchten wir uns speziell den Tierfabeln zuwenden.
Tierfabeln gibt es in Prosa und Poesieform und sie haben für verschiedene Altersstufen und Bevölkerungsteile ihren besonderen Reiz. Viele von diesen Tierfabeln haben Poeten und Schriftsteller aus dem Volksmund übernommen .
Die Tierfabeln gehören zu den Formen der Volksliteratur, die sowohl unter dem einfachen Volke als auch unter den Studierten beliebt und verbreitet waren. Sie wurden gerne als lehrreiches Beispiel angeführt. Mystiker und bekannte Philosophen, Gelehrte der Ethik und Theoretiker in Kultur, Politik und Gesellschaftsfragen haben sie genutzt, um etwas zu veranschaulichen und sich verständlich zu machen. Fast könnte man sagen, dass die Tierfabeln zu den am meisten verwendeten Erzählungen gehören. Denn sie finden bei allen Gefallen - von den Kindern bis zu den Erwachsenen, dem einfachen Mann bis zu den Akademikern. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Zum einen sind diese Tierfabeln kurz und in einfacher Sprache gehalten. Außerdem ist ihre Botschaft von allgemeiner Gültigkeit. Das Interesse an Tierfabeln lässt sich auch dadurch erklären, dass „Charakter“ und Verhalten der Erzählfiguren dem Hörer vertraut sind.
Für die meisten Tierfabeln gibt es ähnliche Erzählungen in anderen Kulturen und Sprachen. Dies zeigt, dass die Botschaften und der Inhalt dieser Erzählungen universal sind und von allen verstanden werden. Tierfabeln sind ein geeignetes Mittel, wenn man die Absicht verfolgt , indirekt seine Meinung auszudrücken oder eine Wirkung beim Gegenüber zu erzielen. Ein typisches Beispiel für Tierfabeln, die gerne von Leuten entsprechend ihrer Absicht angewandt und verschieden gedeutet wurden, ist die Erzählung von der Maus und dem Kamel. Sie fand in verschiedenen Literaturwerken Verwendung. Wir finden verschiedene Varianten dieser Erzählung zum Beispiel im Mathnawi von Maulana Rumi, den Maqalat von Schams-e Tabrizi und dem Asrar-Nameh von Attar Neyschaburi.
Auch die Fabel vom Affen und dem Zimmermann sowie die vom Rebhuhn und der Krähe sind variiert und aufgrund unterschiedlicher Deutung verwendet worden. Diese beiden Erzählungen stammen aus Kalila wa Dimna, einer alten indischen Fabelsammlung . In ihnen wird das unüberlegte Nachahmen anderer kritisiert. Der Affe verliert dadurch, dass er den Zimmermann nachahmen will, sein Leben und die Krähe vergisst ihre eigene Gangart, nachdem sie die des Rebhuhns nachgeäfft hat. Der Inhalt dieser beiden Geschichten taucht auch in anderen iranischen und nicht-iranischen Texten auf. Bei dem Griechen Äsop finden wird die Fabel vom Affen, der wegen seines Versuchs, jemanden nachzuahmen, dem Fischer ins Netz gerät. Außerdem bringt Äsop auch die Geschichte vom Kamel, welches wie der Esel tanzen will und sich dadurch nur blamiert. Der französische Schriftsteller Jean De La Fontaine bringt die Fabel von einem Frosch, der sich aufbläst, um so groß wie die Kuh zu werden, und schließlich zerplatzt.
Es folgt nun unsere Fabel vom Kamel und der Maus. Sie stammt aus dem Mathnawi von Dschalal-addin Mohammad Rumi.
Aus alten Zeiten wird wie folgt berichtet: Eine junge Maus durchquerte einmal eine große Steppe. Diese Maus hatte eine sehr hässliche Eigenschaft. Sie dachte nämlich, sie wär die klügste und stärkste aller Mäuse. Der Stolz hatte ihr die Vernunft geraubt . Sie war völlig von sich eingenommen. So marschierte sie pfeifend und singend weiter, bis sie plötzlich ein Kamel sah, das am Wegrand graste. Die stolze junge Maus dachte: „Ach, wie wäre es, wenn ich dieses Kamel stehle?!“
Die Idee gefiel ihr. Also nahm sie das Kamel an der Halfterleine, um es hinter sich her zu ziehen Das Kamel leistete keinen Widerstand und trottete selber hinter der Maus her. Es hatte sich gerade am frischen Gras sattgefressen, war guter Laune und hatte nichts gegen ein wenig Ablenkung einzuwenden. Gern wollte es wissen, was die kleine Maus, die an der Halfterleine zog, wohl vorhat.
So folgte das Kamel also der Maus, während die Maus nichts davon ahnte, dass das große Tier nur zum Spaß mitläuft. Aber sie glaubte fest, dass sie selber es sei, die das Kamel am Halfter hinter sich her zieht. Darauf war sie ganz stolz und dachte: „Wer hat je erlebt, dass eine Maus ein Kamel hinter sich herziehen kann? Oh ja, ich bin wirklich stark . Ich bin die stärkste und schlauste Maus auf der Welt!“
Die Maus und das Kamel gingen also immer weiter, bis sie schließlich an einem breiten Bach angelangt waren. Die Maus blieb stehen und starrte ratlos auf den rauschenden Bach. Sie überlegte hin und hier, wie sie auf die andere Seite dieses rauschenden Baches gelangen kann.
Das Kamel aber musste innerlich lachen . Es fragte die Maus: „Worüber wunderst du dich? Sei mutig und geh weiter. Hab keine Angst. Du bist mein Führer!“
Die Maus aber war verlegen und wusste keine Antwort. Schließlich hob sie den Kopf und sagte: „Das ist ein tiefes wildes Gewässer und ich fürchte, ich werde darin ertrinken.“
Da lachte das Kamel: „Was! Du hast Angst, diesen kleinen Bach zu durchqueren? Du bist doch so stark und konntest ein Kamel hinter dir herziehen! Wieso hast du nun Angst vor einem schmalen Bach? Nun gut! Lass mich erst ins Wasser gehen, damit ich sehe wie tief es ist.“
Das Kamel betrat also den Bach. Das Wasser reichte ihm nur bis zu den Knien. Da sagte es zur Maus: „Siehst du, liebe Maus? Da gibt es nichts zu fürchten! Das Wasser reicht nur bis zum Knie. So komm du auch ins Wasser und hab keine Angst!“
Die Maus aber sah das Kamel verwundert an: „Was sagst du da! Das Wasser reicht dir bis zu den Knien? Weißt du denn nicht, was das heißt?“
„Nein,“ anwortete das Kamel, „das weiß ich nicht! Was bedeutet es denn?“
Da murmelte die Maus: „Es bedeutet, dass die Knie eines Kamels völlig anders sind als bei einer Maus.“
Das Kamel musste über diese Worte lachen.
Die Maus aber sah ein, dass sie ertrinken wird, wenn sie sich ins Wasser begibt. Deshalb bat sie das Kamel inständig, dessen Rücken besteigen zu dürfen. Das Kamel hatte Mitleid mit der Maus und ließ sie aufsitzen.
Es trug die Maus durch den Bach. Auf dem Weg zum anderen Ufer gab das Kamel der Maus den guten Rat niemals grundlos auf etwas stolz zu sein . Es riet ihr, niemals etwas in Angriff zu nehmen, wenn von vorneherein klar ist, dass es ihre Kräfte übersteigt.