Jun 16, 2017 18:29 CET
  • Volkstümliche Erzählungen aus Iran-Teil 35

Wie Sie wissen besprechen wir zurzeit eine der bekannten Fabeln aus dem Fabelwerk Kalila wa Dimna, und zwar die Geschichte vom Löwen und dem Stier.

In dieser Geschichte geht es darum,

dass ein Stier auf eine Wiese kommt, die an das Reich des Löwen angrenzt und von einem Schakal, der sich Dimna nennt, am Königshof dem Löwen vorgestellt wird.  Löwe und die Stier werden gute Freunde. Dimna wird auf den Stier neidisch, weil der Löwe ihn zu seinem Berater gemacht hat. Er stiftet Zwietracht zwischen den beiden und macht den Stier beim Löwen schlecht. Der Löwe erzürnt und tötet den Stier.

Doch die Wahrheit bleibt nicht verborgen. Durch Zufall kommt die Heimtücke von Dimna an den Tag und er wird seiner gerechten Strafe zugeführt. 

Die Hauptfiguren in dieser Geschichte sind der Löwe, Kalila, Dimna, der Stier, der Tiger und die Mutter des Löwens. Das Hauptthema der Geschichte handelt davon, dass unaufrichtige und böswillige Leute  zwischen Freunden Unfrieden zustiften, indem sie dem einen sagen, was der andere angeblich Schlechtes über ihn geredet hat. Wie wir schon beim letzten Mal sagten, geht es auch um Neid, Dreistigkeit und Heimtücke und  das Unrecht, dass den Naiven widerfährt.  Jedesmal, wenn der durchtriebene Dimna etwas Unrechtes und Unangemessenes tun will, wird er von einem zweiten Schakal, der Kalila heißt und sein Freund ist, gemahnt.

Erst befragt Dimna den Löwen nach seiner Angst, als nächstes macht er Löwe und Stier miteinander bekannt und als drittes behauptet er dem Löwen gegenüber, der Stier habe Schlechtes gegen ihn im Sinn und gegenüber dem Stier behauptet er ähnliches  vom Löwen. 

 

Dimna will aus Neid zwischen Stier und Löwen Unfrieden stiften.  Sein Freund Kalila will ihn davon abhalten und sagt zu ihm, dass er das nicht schaffen werde. Aber Dimna antwortet, mit Überlegung und List könne man Dinge erreichen, an die man mit Gewalt nicht gelangt. Dimna schmeichelt sich beim Löwen ein und beginnt, den Stier bei ihm schlecht zu machen.  Er behauptet von dem Stier, dass er sich mit den Befehlshabern des Heeres gegen ihn zusammen getan habe, und drängt den Löwen, eine geeignete Maßnahme zu ergreifen. Zunächst weist der Löwe die Behauptungen Dimnas über den Stier entrüstet zurück, aber allmählich beginnt das Gerede von Dimna auf ihn zu wirken.

Dimna unternimmt zielstrebig den nächsten Schritt.

Dimna sucht auch den Stier auf. Er warnt ihn vor der Gefahr eines angeblichen Angriffes des Löwens. Der Stier weiß  nicht, weshalb er  vor dem Löwen Angst haben sollte. Doch Dimna gelingt es Zweifel bei ihm zu erwecken und schließlich glaubt der Stier, dass der Löwe tatsächlich böse Absichten hegt.

Die Zwietracht säenden Worte des Schakals haben dermaßen Wirkung auf den Stier, dass er mit Dimna berät, was er am besten gegen den Löwen unternehmen soll. Dimna  schlägt ihm ein Gefecht mit dem Löwen vor. Aber der Stier fürchtet sich den Kampf zu beginnen. Dimna berichtet ihm jedoch von der Wut des Löwens und dass dieser den Stier töten will. Schließlich tritt der Stier dem Löwen kampfbereit gegenüber.

Als der Löwe den Stier in Angriffsposition sieht, greift er ihn selber an. Es kommt zu einem kurzen Gefecht und der Löwe tötet den Stier.              

 

 Nach dieser Begebenheit tritt zunächst keine größere wichtige Handlung ein und es spielt sich nur ein Gespräch zwischen Kalila und Dimna über die Folgen seiner boshaften Tat ab. An diesem Punkt beginnen die moralischen Ratschläge der Fabel.    

Kalila redet Dimna ins Gewissen und sagt: „Du bist unwissend, weil  du auf Kosten des Schadens der anderen deinen eigenen Vorteil anstrebst. Du hast wie eine Dornenrose zwei Seiten. Wer eine solche Rose  anfassen will, der verletzt sich an ihren Dornen.“

 

Als nächsten Schritt will  Dimna die Gunst des  Löwen, der die Tötung des Stieres bereut, gewinnen, indem er  ihn von seiner Trübsal ablenkt  und sich als guter Freund hervortun. Doch das gelingt ihm nicht. Er wird schließlich aufgrund einer Zeugenaussage des Tigers verklagt, eingesperrt und getötet.

Der letzte Abschnitt  weist weniger Handlungen  auf und bleibt im Großen und Ganzen auf die Gespräche zwischen den Hauptfiguren beschränkt. 

 

Inhaltlich geht es in dieser Erzählung vor allem darum welche Wirkung es hat, wenn jemand durch Verleumdungen zwei Freunde auseinander bringt. Aber auch Neid ist ein wichtiger Punkt. Er ist das Handlungsmotiv von Dimna zur Zwietrachtstiftung. Einige schlechte Attribute wie Neid, Zorn und Wut, Gier und weitere  sind nicht so leicht im Menschen auszumerzen und gelten daher wie seine zweite Natur.  Wenn diese Eigenschaften Überhand nehmen, geraten sie aus seiner Kontrolle.  Und wirken aus dem Unterbewusstsein heraus.

In dieser Geschichte werden nicht direkt die guten und schlechten Eigenschaften beschrieben sondern es werden ihre sichtbaren Formen , ihr Nutzen bzw. ihr Schaden  dargelegt.

Dimna ist die Hauptfigur in der Erzählung. Sein Handlungsmotiv ist zunächst der Ehrgeiz. Er möchte an eine höhere gesellschaftliche Position gelangen. Es gelingt ihm teilweise  die Ereignisse dafür auszunutzen.

Aber wegen seiner Gier nach einem hohen Rang verlassen ihn Vernunft und Weitsicht und er ist nicht mehr in der Lage, die Folgen seines Verhaltens zu ermessen.

                  

Der Stier gelangt in die Gunst des Königs und Dimna wird vergessen. In Dimna nagt der Neid . Er kann nicht akzeptieren , dass ein anderer nun die Stellung beim Löwen genießt, die er sich selber gewünscht hat.

Die Geschichte vom Löwen und Stier bringt moralische Inhalte zur Sprache. Es ist typisch für eine alte Erzählung, dass sie eine alltägliches Thema, das auch auf das einfache Volk zutrifft, in einer Weise bringt,  dass sie wichtig erscheint und der Erzähler sich Gehör verschafft.

Wenn zum Beispiel im  Leben der Durchschnittsbürger jemand aus Neid Verrat begeht wird es nicht so viel Interesse erwecken als wenn sich Ähnliches  zu Hofe der Könige ereignet. Spielt sich die Geschichte am Königshofe ab, so ist sie einfach aufregender, wirkt wichtiger und alle möchen sie sich anhören.  Bei vielen Liebesgeschichten ist es genau. Gerne wird von der Liebe zwischen Prinz und Prinzessin berichtet, oder zumindest einer der Liebenden gehört dem Königsgeschlecht an.  Man könnte fast meinen, dass nur der Adel  sich verliebt oder es nur am Königshof Neid und Eifersucht gibt.

In Wahrheit wird den Inhalten solcher Erzählungen  durch die Wahl von  gesellschaftlich wichtigen Figuren Bedeutung verliehen.

Der Löwe sagt zu seiner Mutter, als diese ihm berichtet, dass Dimna den Stier zu Unrecht bei ihm schlecht gemacht hat:

„Die Leute, die den König umgeben sind immer neidisch, begehen Schlechtes und  sind streitsüchtig.  Denn jeder verspricht sich etwas davon, wenn er sich dem König nähert und zwischen den Leuten herrscht ein Wettstreit um einen höheren Posten und  Neid.“

Aber Neid gibt es nicht nur am Königshof.  Die normalen Bürger beneiden sich manchmal  um die geringfügisten Dinge. An dem Ausgang der Geschichte vom Löwen und Stier wird  für die Allgemeinheit erkennbar,  welche Folgen  die Zwietrachtstiftung  und der Neid und die Abkehr von der Weitsicht zur Folge haben.

Eine weitere Botschaft dieser Fabel lautet, dass Unrecht und der Mord an Unschuldigen keinen guten Ausgang nehmen.

Dimna macht den Fehler, dass er seine Kenntnisse nicht richtig anwendet und nicht weitsichtig handelt.  Er ist sich nicht im Klaren darüber, dass er auf dem Weg zu seinem Ziel viele moralische Prinzipien mit den Füßen treten und alle Mittel einsetzen muss, auch wenn diese Mittel gegen die moralischen Grundsätze verstößt.

An einer Stelle in dieser Geschichte mahnt Kalila seinen Freund Dimna, dass König Löwe nicht immer die Besitzer besonderer Tugenden höher einstuft sondern bei der Vergabe von Posten mehr Wert auf seine Verwandtschaft legt. Aber Dimna sagt ihm darauffhin:  „Die Einflussreichen haben nicht immer diesen Rang besessen, sondern sind allmählich  durch ernsthaften Eifer an diese Macht gelangt. Man muss nur wissen, dass Hindernisse auf diesem Weg liegen, die man mit Ausdauer hinter sich bringen muss. Auf diese Weise kann der Mensch die Erfüllung seiner Wünsche erreichen.“

Letzte Feststellung kommt aus dem Munde der negativen Charaktere dieser Fabel. Es fragt sich wie Dimna , der diese Aussage macht, bereit ist, durch Zwietrachtstiftung den Tod eines Unschuldigen zu verursachen.  Eines ist klar und zwar hat seine Triebseele über seine Vernunft gesiegt.  Die ganze Geschichte über gibt Dimna seinem Freund Kalila sehr überzeugende Anworten . Selbst der Löwe ist bis zum Schluss nicht bereit, schlecht über den Schakal zu denken und glaubt den Zeugen nicht, bis schließlich  Dimna doch die verdiente Strafe für sein durchtriebenes Tun erhält.