Oct 21, 2022 15:11 CET

In Ghazni in Ost-Afghanistan steht die Ruhestätte eines iranischen Dichters, der im 11. Und 12. Jahrhundert nach Christus einen deutlichen Wandel in der Farsi-Dichtung hervorrief. Er hieß Sanai.                              

Sanai war ein bedeutender Mystiker und gehört zu den Größen der Dichtung auf Neupersisch, die einen eigenen Stil hatten. Mit seiner Denkweise und seinem Werk hat er großen Einfluss auf so bekannte iranische Dichter wie Maulawi und Attar genommen. Literaturkenner  sagen, dass derjenige Dichter erfolgreich ist,  der  Form oder Inhalt der Poesie eine neue Gestaltung hinzufügt. Sanai ist in seiner Epoche der einzige Dichter gewesen, der den traditionellen Strukturen der Farsi-Dichtung neue Frische verlieh, insbesondere den Kassiden und Ghazelen. Er bereicherte außerdem die persische Dichtung durch mystische Gedanken. 

Vor Sanai lagen die spirituellen Erlebnisse der Mystiker aus  dem zweiten bis zum fünften Jahrhundert nach der Hidschra (8.  bis 11. Jahrhundert nach Christus) nur in Form von Prosa vor, wie in den Büchern Al-Risala al-Quschairia und Ihya ulum ad din. Sanai brachte diese Erfahrungen jedoch in die Form traditionell und experimental strukturierter  Dichtung und löste einen grundlegenden Wandel  in der Farsi-Literatur aus. Sanai-Forscher und Kenner sind der Meinung, dass seine Werke auf diesem Gebiet sowohl einen Neubeginn darstellen als auch einen Höhepunkt. 


تو با من و من پویان هر جای تو را جویان
ای شمع نکورویان آخر چه وصال است این
در وصل تو عقل و جان چون من شده سرگردان
ای وهم ز تو حیران آخر چه جمال است این

Du bist  mit mir, derweil ich unermüdlich überall dich suche und nach dir frage

O  du Kerzenflamme, an der ein jeder schöner Falter sein Gesicht versengt,  welch ein Stelldichein ist dies, ach!

Verstand und Seele sind wie ich verwirrt wenn sie bei dir angelangen

O du! Sie sind sprachlos, denn, ach, welch eine Herrlichkeit welch eine Pracht!

                

Der zeitgenössische Dichter und Literaturforscher Dr. Schafii Kadkani sagt: Die mystische Bewegung, die mit den Gedichten von Sanai begann und sich der Farsi-Dichtung anschloss, ist genau das, was nach ein wenig Änderungen in den Bestandteilen der Rede, den himmelnahen Ghazelen des Hafiz ihre Gestalt verlieh. In dieser Art von Gedichten werden die beiden Richtungen im Menschen nämlich seine irdische und seine himmlische Seite miteinander verknüpft.

Die sprachlichen Bilder in der Dichtung von Sanai entspringen seinen spirituellen Erlebnissen und seiner philosophischen Denkweise. Der Mystiker Sanai sieht in allen Dingen auf der Welt Leben.  Bei einem Vergleich mit seinen Vorgängern und sogar mit seinen Nachfolgern  werden der Rang Sanais  und seine Innovativen  insbesondere in der Ghazelen- und Kassiden-Dichtung deutlich erkennbar.    

Literaturkritiker Dr. Schafii Kadkani, der in seinem Werk Tazianehaye suluk die Gedichte und Denkweise von Sanai untersucht, ist der Meinung, dass in der Ghazelen-Dichtung vor Sanai und selbst in der der anderen Dichter seiner Epoche kein Leben steckt.  Sanai aber hat ihr Dynamik verleihen. Es lässt sich sagen, dass der gesamte große Divan von Maulawi (Rumi) von dieser lebhaften Ghazelendichtung Sanais beeinflusst ist.

Nach Sanai wurde die Mystik geläufigster Gegenstand der Farsi-Dichtung. Im Werk des Sanai stehen alle Begriffe der Mystik. Dort wo es nötig war, hat er sie vollständig dargelegt und erklärt, während er sich in anderen[r1]  Teilen seines Werkes mit kurzen Hinweisen begnügt hat. Viele Sanai-Forscher sagen, dass es keinen wichtigen Gedanken der Mystik gibt, den Sanai nicht in seiner Dichtung berührt hätte. Daher haben sich die Sufis und Mystiker und sogar Philosophen und Theosophen  vor allem Dinge auf seine Werke gestützt.

                    

Sanai kann als der erste gelten, der die Denkweise eines idealen Menschen in die Farsi-Dichtung einfließen ließ. Indem er drei Hauptthemen ins Auge fasste, nämlich Erkenntnis von  Gott, Welt und  Mensch, gelang es ihm die feinsten mystischen Gedanken vorzustellen und in seinen Kassiden und Ghazelen und ebenso in dem Werk Hadiqat ul Haqiqa (Garten der Wahrheit) eine vollständige mystische Denkordnung darzulegen. Dieses Weltbild wurde von seinen Nachfolgern Attar und Maulana (Rumi) erweitert und erreichte bei diesen ihren Gipfel.  Es lässt sich sagen, dass nach Maulana (Rumi) diesem Weltbild nichts Neues mehr hinzugefügt worden ist.

Sanai hat sich aber nicht nur auf mystische Themen beschränkt sondern in seiner Poesie auch den moralischen und sozialen Fragen zugewandt. Er war besorgt über seine Umgebung und über die Missstände in der Gesellschaft und die Ungerechtigkeit der Herrscher. Seine Kritik an der Gesellschaft ist lebendig und nicht nur auf die Geschichte seiner Epoche beschränkt:


این چه قرن است اینکه در خوابند بیداران همه
وین چه دور است اینکه سرمستند هوشیاران همه

 

Welch ein Jahrhundert ist dies bloß, dass die Wachen schlummern, alle!

Welch eine  Zeit ist dies bloß, dass die Wachsamen trunken, alle!

 

Es lässt sich behaupten, dass die gesellschaftskritischen Gedichte Sanais so überzeugend und ansprechend sind, dass man sie zu den besten Farsi-Gedichten über politische und soziale Themen zählen kann.

Sanai kann als der größte Verfasser von Gedichten mit sozialem Inhalt in der Geschichte der klassischen Farsi-Literatur gelten. Seine Dichtung ist ein Aufschrei. In den meisten seiner Kassiden rügt er die Liebe zum Weltlichen und die Weltliebenden. Unerschrocken legt er sich mit den Frömmelnden und den tyrannischen Herrschern an, die sich gegenseitig rechtfertigen. Er fürchtet sich nicht davor, die Wahrheit zu sagen,  kritisiert die soziale Lage in seiner Zeit  und spricht über Missstände und Leiden. Seine scharfe Zunge richtet er meistens gegen die Vergnügungssüchtigen und unterdrückerischen Herrscher.  Und immer wieder veranschaulicht er  das gottesfürchtige Leben des Propheten und der Unfehlbaren aus seinem Hause und der Prophetengefährten und versucht auf diese Weise, die ideale Gesellschaft zu verbildlichen.  Besonders in seinen Kassiden  behandelt er dieses Thema und wenn immer es um Frömmigkeit und Mystik geht,  tadelt er die Liebe zum Weltlichen und denkt über den Tod nach. Er empfiehlt, sich von langfristigen endlosen Wünschen loszusagen und ermahnt zur wahren Menschlichkeit.  

                              

Nach Firdausi und Naser Chosrau gehört Sanai zu den ersten nachdenklichen Dichtern in der Farsi-Literatur. Er hat seiner Poesie das mystische Denken eingegeben und den Grund für einen breiten Wandel in der Denk- und Schreibweise der Dichter nach ihm hervorgerufen und mehrere Jahrhunderte lang auf die Farsi-Dichtung eingewirkt.  Dank seiner dichterischen Begabung und seines Einfallsreichtums  hat er sowohl in der Ghazelen-, als auch in der Mathnawi- und der Kassiden-Dichtung neue Strukturen eingeführt. Vor ihm dienten die Kassiden nur für die Huldigung der Könige und der Leute zu Hofe und eventuell der Beschreibung der Natur , des Frühlings und des Herbstes ...Vertreter dieser Art von Kassiden waren Dichter wie Onsori, Farrochi und Manutschehri.

Sanai war einer der ersten Dichter, die soziale und mystische Fragen und spirituelle Weisheit in der Kassiden-Dichtung üblich machten. Viele seiner Kassiden gelten immer noch als das beste Beispiel für Kassiden mit sozialen, mystischen und frommen Inhalt.

Auch bei der Ghazelen-Dichtung hat Sanai das Fenster zur Erleuchtung geöffnet  und die Ghazelen zur Sprache der mystischen Liebe und Begeisterung gemacht.  Im Rahmen des Mathnawi hat er über spirituelle Weisheit gesprochen und den Propheten des Islams metaphorisch beschrieben. Davon haben sich viele Dichter nach ihm in ihren mystischen Mathnawis inspirieren lassen, wie Chaqani und Nezami und Attar und Mulawi. Chaqanai hat sogar, um seine Gedichte in den Vordergrund zu stellen, sich mit Sanai verglichen und gesagt, er sei sein würdiger Nachfolger.

In den Kassiden und im Mathnawi drückt Sanai sich hart aus aber seine Ghazelen sind weicher und liebevoll. Bei der Beurteilung der Dichtung von Sanai sind stets die beiden unterschiedlichen Denkperioden in seinem Leben ins Auge zu fassen. Die Gedichte vor seiner inneren Wende harmonierten mehr mit den bestehenden Bedingungen. Für diese Zeit gilt er als Lobdichter und Nachahmer, aber nach seiner inneren Revolution erfuhr auch seine Dichtung einen Wandel.

Sie werden beim nächsten Mal noch mehr über ihn erfahren.


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