In Iran gerühmt, in der Welt berühmt (48 – Anwari – 2)
Wie versprochen, werden wir uns noch einmal mit dem Dichter Anwari beschäftigen insbesondere mit seinem Werk und seiner teilweise paradoxen Einstellung. Anwari hat im 12. Jahrhundert gelebt. Er wurde in einem Ort geboren, der damals zu Iran gehörte und heute in Turkmenistan liegt.
Anwari, auch Anwari Abivardi oder Anwari Chavarani genannt - wobei Abivardi und Chavarani auf seine iranische Herkunft hinweisen -, hat im 6. Jahrhundert nach der Hidschra und dem Mondkalender bzw. im 12. Jahrhundert nach Christus gelebt. Er erwarb in seiner Jugend gediegenes Wissen in Literatur, Philosophie, Mathematik, Musik und Astronomie und verdiente sich den Titel eines Hakim – eines Weisen. Wegen seiner dichterischen Begabung fand er Einlass am Hofe des Sultan Sandschar, dem er 30 Jahre lang als Sterndeuter und Lobdichter diente, bis er sich aus dem Leben zu Hofe zurückzog. Anwari gilt als einer der großen iranischen Dichter und wurde schon zu Lebzeiten gerühmt. In seiner Epoche war die Lobdichtung gang und gäbe. Dichter konnten mit ihren Kassiden ihr Leben bestreiten und den Mächtigen ihrer Epoche näherkommen.
Der Gedichtband von Anwari umfasst 14700 Doppelverse (Bait). Es sind Kassiden (Oden), Qati`at (Kurzgedichte) Ghaselen, und Ruba`iyat (Vierzeiler). Zu dem Diwan von Anwari äußert sich der iranische Literaturforscher Dr. Schafii wie folgt: „Ein Blick in seine Gedichtsammlung verrät innere Widersprüche des Dichters. In dieser Gedichtsammlung spricht er sowohl von der Frömmigkeit und Enthaltsamkeit als auch von der Begierde und der Anhäufung von Reichtum. Manchmal ist die Rede vom Einsatz der Vernunft und manchmal von der Abkehr von ihr. Das eine Mal beobachten wir die Liebe zur Dichtung bei ihm und das andere Mal, dass sie ihm verhasst ist.“
Anwari hat gelungen verschiedene Dinge in poetische Form gebracht – von der Huldigung und dem Spottgedicht bis zur Mahnung und dem Gleichnis und der Kritik an der Gesellschaft. Dr. Dschafar Mahdschub ist der Überzeugung, dass es Anwari vor Saadi, dem großen Ghaselendichter der persischen Sprache, gelang, die Ghaselen ihrem Gipfelpunkt und ihrer Schönheit nahezubringen. Er sagt: „Anwari ist der erste Dichter, in dessen Gedichtband die Ghaselendichtung aufblüht.“
Im Arabischen bezeichnet Ghazal ein Liebesgedicht aber in der persischen Lyrik bezieht sich das Wort Ghasele auf eine bestimmte Gedichtsform, in der laufend dasselbe Wort am Ende eines Verses steht und so in den Mittelpunkt rückt. Dabei können die vorletzten Wörter der Verse miteinander einen Reim bilden. In einem solchen Gedicht geht es auch oft um Liebe, aber nicht unbedingt. Auch deutsche Dichter haben sich an dieser Gedichtsform versucht. Zum Beispiel lauten die ersten vier Zeilen eines Gedichtes von Friedrich Rückert in freier Nachdichtung der Ghaselen des iranischen Mystikers Schams von Täbriz:
Ich sah empor, und sah in allen Räumen Eines;
Hinab ins Meer, und sah in allen Wellenschäumen Eines.
Ich sah in's Herz, es war ein Meer, ein Raum der Welten,
Voll tausend Träum'; ich sah in allen Träumen Eines...
Anwari liebte einerseits die Dichtung. Er war andererseits aber auch der Hikmat (Weisheit) zugetan und betrachtete sie als besser als das dichterische Schaffen. Er dachte sogar, dass ihm eigentlich das Dichten nicht geziemt. Der Dozent für Sprache, Literatur und das Neupersische Dr. Asghar Dadbeh, ein zeitgenössischer Forscher, sagt über ihn: „Obwohl Anwari wie Platon ein Dichter ist, verbannt er platonisch die Dichter aus seiner Utopia“.
Anwari unterstreicht seine Liebe zur Weisheit und Philosophie. In seiner Dichtung fragt er daher nach den Ursprüngen der Poesie. Er führt sie auf den Drang zur Schaffung von Kunst zurück und schreibt die dichterische Huldigung, das Spottgedicht und die Ghaselen-Dichtung der Reihe nach als natürliches Ergebnis von Begierde, Wut und Verlangen zu. Ohne davon zu reden, was eigentlich ein wahres Gedicht ist, zählt er die Merkmale einer unechten Dichtung auf. Darunter fällt bei ihm auch die dichterische Lobrede. Anwari bewertet die Dichtung nach ihrem Inhalt. Er sagt: „Ein wahrer Dichter darf nicht den Inhalt seiner Dichtung bei anderen Dichtern übernehmen.“ Das Gedicht eines Dichters sollte nach Anwaris Meinung das Resultat eines eigenständigen Denkprozesses sein.
Stilforscher der Farsi-Dichtung sagen, dass Anwari quasi zwischen dem Chorasaner und dem irakischen Stil liegt. Mohammad Dschafar Mahdschub ist der Ansicht, dass Anwari durch Vollendung des dichterischen Stils des iranstämmigen Abu al Faradsch Runi, der um Ende 11. Jahrhundert verstarb, den Weg für das Erscheinen des so genannten „irakischen Stils“ im Iran ebnete, welcher viele Neuerungen mit sich brachte.
Anwaris literarischer Stil lässt sich nach drei Gesichtspunkten untersuchen: Sprache, Fantasie und Thematik. Ganz typisch für Anwari ist dass er die Umgangssprache mit der dichterischen verknüpft, insbesondere in seinen Ghaselen. Der 1970 verstorbene zeitgenössische Literaturforscher Furuzanfar ist der Meinung, dass der Stil von Anwari nach einem hundertjährigen Weiterentwicklungsprozess sich auf beste Weise in der Sprache des weltbekannten Dichters Saadi Schirazi manifestiert hat. Und Dr. Schafii Kadkani hat die Syntax in der Dichtung von Anwari also Satzaufbau und Satzstruktur als eine der natürlichsten der neupersischen Sprache bezeichnet, die frei von Überflüssigem ist. Dies gilt sowohl für seine Kassiden in der zeremoniellen Sprache als auch für seine Gedichte in der vertrauten Umgangssprache, wie den Qat´iat (Kurzgedichten) und Ghaselen.
Charakteristisch für den Stil von Anwari ist auch die Schaffung von neuen Metaphern und Vergleichen, mit Hilfe derer er schöne und gute Inhalte verbildlicht. Seine Verbildlichungen sind kompakt, das heißt er kombiniert mehrere Bilder und dies verleiht seinen Gedichten ihren besonderen Reiz. Es stellt eine Neuerung im Vergleich zu der damals üblichen Poesie dar, denn Anwari entlehnte Elemente der dichterischen Fantasie, die er bei Vorgängern entlehnt, in einem neuen Gewand vorgestellt. Bei seinen neuen Sinnbildern hat er seine Kenntnisse in den damals üblichen Wissenschaften genutzt. Um seine Gedichte zu verstehen war es nötig, Kenntnisse in diesen Wissenschaften zu besitzen.
Anspielungen und Parabeln sind ebenfalls kennzeichnend für den dichterischen Stil von Anwari. Sie gelangten an solch eine Bedeutung, dass viele seiner Worte zu einem Schlagwort und einer Redewendung wurden und das lag offensichtlich an der natürlichen Struktur seiner Sprache. Dr. Sirus Schamisa, (geboren 1948) ist Universitätslehrer für die Farsi-Literatur und Literaturforscher. Er sagt, es sei ganz typisch für den Stil Anwaris, dass er aus den Koranversen und Überlieferungen und bekannten Geschichten oder dem gewöhnlichen Alltag neue Themen ableitet und frische Inhalte schafft.
Frühere Literaturkritiker haben Anwari sogar neben Firdausi und Nezami gestellt und ihn als einen der drei „Propheten“ der Farsi-Dichtung betrachtet. Darum hat jeder Biograf ihn auf seine Weise gelobt und eine der Eigenschaften seiner Dichtkunst besonders hervorgehoben. Anwari hat sich sogar selber gelobt und mit anderen Dichtern wie Sanai und seinem Zeitgenossen Adib Sabir verglichen. Gemäß der modernen Literaturkritik und nachdem andere Maßstäbe angelegt wurden, wurde die Meinung, dass er einer von drei oder fünf Größen der Farsi-Literatur darstellt, verworfen. Dennoch sind sich auch die neuen Literaturkritiker darüber einig, dass die Sprache des Dichters Anwari klar, schlicht und ungekünstelt ist. Dr. Schafii Kadkani bestätigt, dass sich auch in den Lobgedichten Anwaris kaum ein überflüssiges Wort befindet und er in solchen Kassiden eine Redekunst einführt, die neuen Regeln gehorcht.
Die Mehrzahl der zeitgenössischen Kritiker sehen in Anwari einen der besten Literaturen seiner Zeit und betrachten ihn als feste Säule der Neupersischen Dichtung. Sie haben seine Begabung für Schaffung neuer Inhalte und Sinngebung hervorgehoben und bezeichnen ihn auch als einen Meister der Satire. Anwari ist ein geschickter Bildner, der auf der Leinwand seines Gedichtbandes (Diwan) alle hässlichen und verborgenen Gesichter seiner Zeit darstellt. Anwari scheut sich nicht in seinem Diwan über die Theosophen und die Richter, die Emire und die Herrscher und die verschiedenen Gesellschaftsschichten der Turkmenen und der Ghaznawiden herzuziehen und er hat sie – wie er selbst sagt – „mit dem Dolch des Spottes verletzt“. Mit seiner scharfen Zunge hat er viele Probleme seiner Gesellschaft angesprochen. In dieser Kategorie seiner Gedichte ist der Ruf der schwachen heraus zu spüren, die unter dem Druck der Korruption und dem Übel der Befehlshaber und der Diktatur der Herrscher zu ersticken drohten.
Gegen Ende seines Lebens ließ Arwani – wie aus Biografien hervorgeht, von seinen lyrischen Huldigungen ab und bereute seine Lobdichtung. Er drückte es in Reimen aus:
دی مرا عاشقکی گفت غزل میگویی؟ |
گفتم از مدح و هجا دست بیفشاندم هم
گفت چون؟ گفتمش آن حالت گمراهی رفت |
حالت رفته دگر باز نیاید ز عدم
Ein kleiner Verliebter fragte mich gestern: Reimst du Ghaselen?
Ich sagte: ich ließ ab von Huldigung und Lobgedicht
Er fragte mich: warum? Es geriet in die Irre, sagte ich
Und was einmal sich verirrt, kehrt nie mehr zurück aus dem Nichts.