Eine berühmte Koranexegese und wie sie entstand
Madschma al Bayan fi Tafsir al Quran ist das bekannteste Werk von Scheich Tabarsi (verstorben 1154 nach Christus) und gehört zu den wichtigen arabischsprachigen Korankommentaren des 6. Jahrhunderts nach der Hidschra, 12. Jahrhundert nach Christus.
Madschma al Bayan hebt sich mit seiner Methodik von allen anderen Korankommentaren der Sunniten und Schiiten ab. Der Mufti und Leiter der Al-Azhar-Universität in Ägypten, Scheich Schaltut (verstorben 1963), hat in einem Vorwort zu dieser Koranexegese das Madschma al Bayan wegen seines tiefen, abwechslungs- und umfangreichen Inhalts als beispiellos im Vergleich zu vorherigen und als außergewöhnlich unter den darauffolgenden Kommentaren gelobt.
Der junge Theologiestudent verließ sofort das Lehrzentrum und eilte zum Haus von Muhammad ibn Yahya, dem angesehenen Seyyed, Nachfolger des Propheten, der Al-Zabareh- Familie. Er war noch ganz außer Atem als er dort anklopfte, und bleich im Gesicht. Muhammad Ibn Yahya öffnete die Tür und fragte nach seinem Anliegen. Der junge Theologieschüler stotterte: “Scheich Tabarsi !...Scheich Tabarsi! Scheich Tabarsi ist gestorben!”
Da sank Muhammad ibn Yahya auf die Knie, tat einen tiefen Seufzer und verbarg das Gesicht hinter seinen Händen. Es dauerte eine Weile bis er wieder aufstand, sich die Tränen wegwischte und seinen Leuten sagte, sie sollten überall in der Stadt bekanntgeben, dass Amin ul Islam Tabarsi gestorben ist.
Die ganze Stadt trauerte. Alle versammelten sich zum letzten Geleit für den Scheich. Mehrere Männer trugen den Holzsarg mit Scheich Tabarsi auf ihren Schultern und legten seine sterbliche Hülle ins Grab. Keiner bemerkte dass das linke Augenlid des Scheichs ein wenig zuckte, als die letzte Steinplatte über seinem Grab gelegt wurde. Die Friedhofarbeiter füllten die Grabvertiefung mit Erde und legten ein schwarzes Tuch über den Erdhügel. Im Westen hatte der Sonnenuntergang begonnen, während die Trauernden einer nach dem anderen am Grab die übliche Sure für den Verstorbenen sprachen und sich dann nach Hause begaben.
Es wurde Nacht und niemand war mehr auf dem Friedhof. Aber Scheich Tabarsi öffnete die Augen. Deutlich verspürte er den Geruch der feuchten Erde und des Kampfers, mit dem sein Körper eingerieben worden war. Er stöhnte. Seine rechte Hand lag unter seinem Körper. Er hob die linke Hand hoch und berührte mit den Fingerspitzen die kalte Steinplatte über ihm. Mit Mühe wälzte er sich auf den Rücken. Sein Leib war eingewickelt in ein weißes Tuch. Allmählich wurde ihm bewusst, wo er war und was passiert war: Während des Unterrichts an der Theologieschule war ihm plötzlich schlecht geworden und er hatte das Bewusstsein verloren. Und nun lag er im Grab. Sie hatten ihn beerdigt. Aber er war doch am Leben!
Langsam wurde der Sauerstoff im Grab knapp und Scheich Tabarsi hörte wie sein Atem schwerer ging. Er schloss die Augen und ließ sein Leben in Gedanken an sich vorbei ziehen. Als er noch ein Kind war hatte ihn sein Vater Hasan Ibn Fadhl schon sehr früh zum Maktab-Chaneh geschickt. Das war eine traditionelle Vorschule. Er hatte seit seiner Kindheit gerne gelernt und mochte die Koranverlesung sehr. Er hatte sich sehr um Wissen über die arabische Literatur, den Koranvortrag und die Koranauslegung, über Überlieferung und Religionsrecht, über die Grundlagen der Rechtsprechung und über die islamische Scholastik (Kalam) bemüht und sich auf allen diesen Gebiete spezialisiert. Er galt auch als ein großer Mathematiker, denn er hatte sich für die Arithmetik und Algebra interessiert, obwohl sie damals an keiner Madresa (Theologieschule) unterrichtet wurden.
Die Jahre waren schnell vorbei gegangen und sechs Jahre vorher, als er 54 Jahre alt war, hatten ihn die Nachkommen des Propheten aus der Zabareh-Familie nach Sabzewar eingeladen. Sie waren mit ihm verwandt und er nahm ihre Einladung an. Als erstes hatte er in Sabzewar die Leitung der Madresa Darwazeh Iraq, die älteste iranische Madresa, übernommen. Unter seiner Anweisung war diese Madresa in ein bedeutendes Theologisches Lehrzentrum umgewandelt worden. Der kulturelle und wissenschaftliche Reichtum dieser Stätte hatte viele Schüler angezogen. Sie kamen aus den entferntesten Orten Irans. Viele junge Menschen, die sich in den Dienst in der Religion stellen wollten, erwarben dort bei Tabarsi Kenntnisse in verschiedenen Wissenschaften wie Fiqh und Tafsir (Religionsrecht und Koranauslegung).
Tabarsi lag mit offenen Augen da. Das Atmen fiel ihm immer schwerer. Sein Platz war so eng! Ihm brach der Schweiß aus. Er musste an den Wunsch denken, den er schon in der Jugend gehegt hatte: Den Wunsch einen Korankommentar zu schreiben. Es war noch nicht so lange her, dass Mohammad ibn Yahya, der Älteste der Al-e Zabareh ihn gebeten hatte dies zu tun. Aber immer wenn er damit beginnen wollte, war etwas dazwischen gekommen. Da begann Tabarsi, der Gott ganz nahe spürte, zu beten: “O Gott, wenn ich Rettung finde, werde ich einen Korankommentar schreiben. Errette mich aus diesem engen Ort, damit ich mein Leben diesem Werk widme.”
Ein schäbiger Dieb hatte ängstlich den großen Friedhof betreten. Er hielt eine Schaufel in der Hand und ging direkt auf das Grab von Scheich Tabarsi zu. Dort blieb er stehen und schaute um sich. Es herrschte große Stille. Der Mann zog das schwarze Tuch weg und begann die Erde wegzuschaufeln. Der Scheich verspürte einen kühlen Luftzug, öffnete die Augen wieder und begann laut durchzuatmen. Der Dieb, der gekommen war um das Leichentuch zu stehlen, bekam einen großen Schreck und wollte davonlaufen. Aber Tabarsi ergriff seine Hand und sagte: “Hab keine Angst. Mein Herz hat versagt und die anderen haben gedacht ich sei tot und mich beerdigt. Aber Gott hat dich geschickt, damit du mich rettest.”
Scheich Tabarsi schrieb seinen Korankommentar und nannte ihn Madscha`al Bayan fi Tafsir al Quran. Er schrieb ihn in Anlehnung an den Korankommentar At Tibyan Fi Tafsir al Quran. von Scheich Tusi und vollendete ihn nach 7 Jahren.
Tabarsi erklärte die Koranverse unter verschiedenen Gesichtspunkten, legte die Bedeutung von schwierigen Wörtern dar und nannte den Anlass der Herabsendung und erklärte die allgemeine Bedeutung. Dabei folgte er einem geordneten Schema. Nach Ansicht von sowohl schiitischen als auch sunnitischen Gelehrten zeichnet sich sein Korankommentar besonders durch dieses systematische Vorgehen gegenüber anderen Koranexegesen aus.
Das Madschma`al Bayan beginnt mit einer wertvollen Einleitung und führt zusätzlich zur Deutung und Auslegung des Koraninhaltes unter anderem die Namen von bekannten Koranrezitatoren und deren Ansichten an. Er erklärt die Namen, die im Koran vorkommen und ihre Bedeutung. In mehreren Fällen erweitert Scheich Tabarsi, der übrigens auch Scheich Tabrisi genannt wird, seine Erläuterungen indem er unter dem Titel “Fasl” – Kapitel – Verse zu einem bestimmten Thema, wie Gottesfürchtigkeit, Rechtleitung, Reue und ihre Voraussetzung sowie aufrichtige Gottergebenheit jeweils ausführlicher betrachtet. Zu diesen Kapiteln gehört auch eines mit den Ratschlägen und Weisheiten des Luqman Hakim. Sein Korankommentar wird außerdem durch zahlreiche Überlieferungen bereichert. Deren Zahl beträgt mehr als 1300.
.
Zu Lebzeiten Scheich Tabarsis waren verschiedene Rechtsschulen im Iran untereinander zerstritten und bekämpften sich sogar. Jede dieser Gruppe propagierte gegen eine andere, um sich selber zu stärken. Aber Scheich Tabarsi betrat mit einer neuen Sichtweise das Feld der Koranexegese. Er betrat den Schauplatz in der guten Absicht, zur Wiederbelebung und Weiterentwicklung des Gedankens von der geistigen Einheit und der religiösen Einmütigkeit zu erzielen. Zu diesem Zweck legte er unter Beachtung der Erfordernisse seiner Zeit und zur Verminderung von Meinungsverschiedenheiten den Heiligen Koran, der ja von allen Rechtsschulen geachtet wird, zugrunde. Sein Werk Madschma`al Bayan zeichnet sich durch ein freies Denken, eine hohe Sichtweise, Weitherzigkeit und seine edle Feder und gerechte Forschung aus. Er hat sich nicht auf eine oder wenige Quellen beschränkt sondern verschiedene Denkweisen untersucht. Tabarsi blickte unparteiisch auf die Meinung aller Rechtsschulen und akzeptierte alles was rechtens und logisch war. Er führte auch Gegenmeinungen an, solange sie die Grundlagen seiner Rechtsschule nicht entschieden schädigten.
Scheich Tabarsi ist den Führern des imamitischen Schiismus gefolgt und hat die Grundlagen und Prinzipien der Schiiten verteidigt, wobei er nicht fanatisch und stolz vorging, sondern maßvoll. Er hat einen wertvollen Beitrag zur Annäherung der Islamischen Rechtsschulen geleistet und sich mit seinem Werk unter den sunnitischen und schiitischen Gelehrten verewigt.
.