Feb 13, 2017 10:43 CET

Wir möchten heute über den Inhalt von Fabeln sprechen. Normalerweise enthalten Fabeln immer eine klare moralische oder spirituelle Weisheit.

Um diese zu verstehen, müssen wir die Parallele zwischen dem Reich der Menschen und dem Reich der Tiere wahrnehmen. Es gibt eine solche   zumindest hinsichtlich der  Verhältnisse zwischen den Schwachen und Starken. Bei Wahrnehmung dieser Parallen  können wir in einer Fabel eine Allegorie zum menschlichen Leben erkennen.  Dass in diesen Geschichten Macht hervorgehoben wird, scheint angesichts der Gesetze im tierischen Reich unvermeidbar zu sein.  Wir akzeptieren stillschweigend eine Art  Gleichstellung der  Beziehungen, die im Tierreich herrschen, mit den Beziehungen in der menschlichen Gesellschaft.

Fabeln beziehen sich wegen dem Auftreten von Tierfiguren auf Erscheinungen, die zwischen dem Reich der Menschen und der Tiere gemeinsam sind, wie  das schon erwähnte Verhältnis zwischen Schwachen  und Starken, oder auch Bedürfnisse und Verlangen, die Tiere und Menschen gemeinsam haben. Bei Fabeln fällt auf, dass Dinge, die mit einer hohen Moral  des Einzelnen zu tun haben, wie Gottvertrauen, Gottergebenheit, Opferbereitschaft und Edelmut, Mitleid und Wohltätigkeit weniger zum Zuge kommen. Umso mehr begegnen wir in Fabeln jedoch Inhalten,  die mit den gesellschaftlichen Beziehungen und der Auseinandersetzung oder Freundschaft zwischen  Mitgliedern der Gesellschaft zu tun haben. Die Moral in diesen Geschichten ist in Wahrheit auf weltliche Dinge bezogen und dreht sich in erster Linie  darum, wie andere besiegt werden können, wie man einer Auseinandersetzung mit dem Feind aus dem Weg geht, dass man dem Feind nicht trauen kann oder von der List des Feindes überrumpelt wird und andere Fragen, die alle eine Lehre über das Gesellschaftsleben beinhalten.

Thematischer Gegenstand vieler  Fabeln sind das Leben von Königen  und die politische Moral. Wie die Forschung belegt  sind zweifelsohne eine große Zahl von Fabeln an Könige und Herrscher gerichtet.  Mit Fabeln über die Beziehungen zwischen einem schwachen und starken oder zwei  starken Tieren oder auch Empfehlungen,  in der Not beim Stärkeren Hilfe zu suchen, sowie  der Betonung auf Nachdenken, Weitsicht und Besonnenheit wird  speziell auf die Beziehungen der Mitglieder der höheren Schichten der Gesellschaft angespielt.  Wenn Tiere wie der Löwe, der Sinnbild für Herrschaft und Pracht ist, in Fabeln vorkommen, so entsteht automatisch eine gedankliche Verknüpfung zu den Herrschern und Königen in der Welt der Menschen. Mit Fabeln konnte man auf beste Weise Machtinhaber  ansprechen und sie auf ihre Schwächen aufmerksam machen.  Mit welcher anderen Sprache hätte man besser einem hochmütigen  König sein schlechtes Verhalten  bewusst machen können?

Es folgt  die Fabel Qesawat-e Gorbeh – das Urteil der Katze. Diese Geschichte kommt in dem Werk  Kalila wa Dimna vor.

Nahe eines Gebirges lebte eine Schar von Vögeln und in ihrer Nähe hatte sich ein Rabe auf einen Baum ein Nest gebaut. Auch ein Rebhuhn hatte dort sein Nest.  Der Rabe und das Rebhuhn waren gute Freunde und verbrachten viel Zeit miteinander. Einmal war das Rebhuhn alleine weggeflogen und nicht zurückgekehrt. Nachdem einige Tage vergangen waren , dachte der Rabe, dass dem Rebhuhn wahrscheinlich etwas zugestoßen sei. Ungefähr 10 Tage danach  tauchte ein Vogel in der Gegend auf, der so ähnlich aussah wie das Rebhuhn und nur etwas kleiner war. Es war ein Sandhuhn. Das Sandhuhn sah das Nest des Rebhuhns leerstehen, säuberte es und begann darin zu wohnen.

Der Rabe, dem es langweilig geworden war, freute sich,  einen neuen Nachbarn zu haben.

Er flog zum Sandhuhn  und sagte:  „Ich fühle mich sehr einsam seit dem mein Nachbar, das Rebhuhn, nicht mehr hier ist.  Ich hoffe, dir gefällt es in diesem Nest!“

Das Sandhuhn antwortete höflich und nett und stattete dem Raben am nächsten Tag selber einen Besuch ab.  Nach einiger Zeit waren der Rabe und das Sandhuhn gute Freunde geworden. Aber da kam das Rebhuhn zurück und sah das Sandhuhn in seinem Nest sitzen. Es rief empört: „Wer hat dir erlaubt, in meinem Nest zu wohnen?“

Das Sandhuhn antwortete: „Was geht das dich an? Ich lebe in meinem eigenen Haus. Wer hat dir erlaubt, mich zu belästigen und mich so anzuschreien?“

Das Rebhuhn war aufgebracht: „Das ist mein Nest und du musst es sofort verlassen.“

Das Sandhuhn antwortete: „Aber ich bin in dieses Haus eingezogen und jetzt gehört es mir!“

Kurzum , die beiden stritten sich immer heftiger.  Der Rabe und die anderen Vögel umringten sie, aber sie wussten nicht, wer Recht hat. Der Rabe versuchte, die beiden Hühner zu versöhnen, aber das gelang ihm nicht. Auch die anderen Vögel schlugen Lösungen vor. Aber weder das Sandhuhn noch das Rebhuhn waren mit diesen Lösungen einverstanden.

Schließlich  hatte einer der Vögel die Idee, dass die  beiden zu einem unbeteiligten Richter gehen sollte, damit er die Sache klärt. Aber sie wollten nicht, dass der Rabe ein Urteil fällt. Schließlich sagte einer der Vögel,  das Rebhuhn und das Sandhuhn sollten die Katze befragen, denn die wäre nicht an einem Nest interessiert und daher neutral. Dieser Vogel sagte: „Die Katze ist ein Tier, welches bei den Menschen lebt und weiß, wie man ein Urteil fällt. Sie ist sanftmütig  und kann gerecht urteilen.“

Das Rebhuhn und das Sandhuhn  nahmen den Vorschlag an und gingen zur Katze. Der Rabe folgte ihnen. Er wollte sehen, wie die Sache weiterverläuft.

Die Katze saß in ihrem Haus und dachte gerade daran, wie sie an Essen gelangen könnte. Als sie das Rebhuhn und das Sandhuhn herankommen hörte, stellte sie sich schlafend und dachte bei sich: „Hm lecker , es riecht nach Vogelfleisch!“

Unterdessen freuten sich das Rebhuhn und das Sandhuhn, dass die Katze zu Hause war und warteten bis sie aufwachte. Als die Katze die Augen öffneten, grüßten sie höflich und baten, sie solle auf gerechte Weise ihren Streit beilegen. Die Katze willigte ein und fragte, was denn passiert sei.

Als die beiden Vögel alles erklärt hatten, schrie die Katze: „Ich habe mir schon gedacht, dass ihr euch nur um Weltliches streitet! Weltlicher Besitz führt doch dauernd zum Streit!“ und dann fuhr sie fort: „Ich bin schon alt und schwerhörig.  So ganz habe ich nicht verstanden, was ihr gesagt habt. Kommt doch näher und erzählt es mir noch einmal, damit ich ein Urteil fällen kann.“

Also kamen das Sandhuhn und das Rebhuhn  näher und beide erzählten einzeln, was passiert war.

Da fragte die Katze: „Nun sagt mir, wer nach eurer Meinung von euch beiden der wahre Besitzer des Hauses ist! Aber sprecht ein bisschen lauter, damit ich euch besser verstehe. Am besten kommt ihr noch etwas näher heran!“

Das Rebhuhn  und Sandhuhn  kamen noch etwas  näher. Sie begannen, der Katze alles noch einmal zu erzählen, als diese pötzlich einen Satz nach vorne machte, beide mit ihren Tatzen packte und verschlang. Danach putzte sie sich das Maul  und murmelte vor  sich hin: „Wenn zwei schwache Wesen nicht bereit sind, ihre Rechte gegenseitig zu beachten, bringen sie ihre Klage vor einen Fremden, der stärker ist, lassen sich von ihm täuschen und erwarten von ihm ein gerechtes Urteil. Ist das nicht komisch? In einem solchen  Fall erfordert die Gerechtigkeit , dass ich erst einmal satt werde.“