Feb 13, 2017 10:53 CET

Wir beprechen zurzeit den Inhalt von Fabeln. Wir sagten, dass die meisten Fabeln einen moralischen Punkt hervorheben sollen.

Diese Moral der Geschichte ist Kernthema. Der Erzähler beabsichtigt eine moralische Botschaft zu übermitteln und stellt sie zu Beginn oder am Ende der Geschichte vor.

Viele Fabeln werden von dem Gedanken getragen, dass man bei allem Tun und zur Erreichung eines Ziels oder Siegs über den Feind seinen Verstand einsetzen soll.

Das Einsetzen des Verstandes kann in verschiedener Form auftreten: durch Nachdenken und Fällung eines Urteils, durch weise Voraussicht , Vorsicht und Anwendung einer List. Durch Nachdenken und Finden einer Lösung soll ein Unglück abgewendet oder die Befreiung vom Feind erzielt oder ein einfacherer Weg gefunden werden, um an ein Ziel zu gelangen.

Die kluge Planung ist Gegenstand vieler Fabeln und wird erfolgreich gegenüber tyrannischen Mächten eingesetzt. Meistens siegt der Held der Geschichte nur dadurch, dass er sich mit einer List beholfen hat.

Die List ist in Wahrheit eine Waffe, welche der Held dank seines Verstandes zur Abwehr des Übels des Feindes und zur Erreichung eines moralisch verfechtbaren Zieles einsetzt.

Ein schlauer Plan ist dabei praktizierte Vernunft.

Ein anderer Aspekt der klugen Überlegung sind Weitsicht und Vorsicht. Auch diesen Punkt behält der Fabelerzähler im Auge und lässt diejenige Figur in der Fabel siegen, die vorsichtig und weitsichtig vorgeht.

Kluge Planung und Vorsicht sind also zwei wichtige Stützen der Vernunft.

List und Schlauheit haben in den meisten Fabeln daher keinen negativen Beigeschmack , sondern man könnte fast sagen, dass sie als Vorzug und eine Art Tugend gelten.

Ein Tier, dem ein großes Unrecht widerfährt, ist zum Beispiel zur Durchsetzung seines Rechtes gezwungen, eine List anzuwenden.

So wird die Anwendung einer List für die Schwachen und Unterdrückten zur Waffe, mit der sie über die Mächtigen und Tyrannen siegen können.

In vielen Fabeln, in denen es um schlaues Verhalten geht, soll die Geschichte beweisen, dass List und Weisheit über Macht und Gewalt zu stehen kommen.

Bei dieser Art von Geschichten ist zu beobachten, dass auch die Mächtigen sich einer List bedienen. Ihnen wird dazu geraten, klug vorzugehen und Vorsicht walten zu lassen und damit zu rechnen, dass ein starker Gegenüber eine List anwenden könnte.

Aber hören Sie bitte nun ein Beispiel aus der iranischen Fabelwelt.

 

„Der Affe und die Schildkröte“ ist der Titel einer Geschichte aus Kalila wa Dimna, die wir für Sie ausgewählt haben. In dieser Geschichte geht es um kluge Überlegung, List und Planung.

 

Kar Danah war der König der Affen. Er war ein gerechter Herrscher, doch war er schon betagt und keineswegs mehr so behende wie in seiner Jugend.

Unter dem Affenvolk aber gab es einen jungen und schlauen Kerl, der schon immer davon geträumt hatte, einmal König zu werden. Er wartete auf eine Gelegenheit, seinen Traum zu verwirklichen.

Eines Tages sah er die Gelegenheit gekommen und spürte, dass der alte König nicht mehr das Land verwalten kann. Also versammelte er einige seiner Freunde um sich. Sie stellten ein Heer auf und griffen König Kar Danah an. Kar Danah verlor das Gefecht und überließ dem jungen Affen seinen Thron.

Aber der neue König wollte Kar Danah töten.

Kar Danah war gezwungen zu fliehen. Er floh in einen dichten Küstenwald.

 

Die Zeit verging und Kar Danah hatte sich an das einsame Leben in dem Küstenwald gewöhnt. Er ernährte sich von Feigen.

Eines Tages saß er wieder auf einem Baum und aß gerade Feigen, als eine davon ins Wasser herunterfiel . Ein Schildkröterich der sich unter dem Baum ausruhte, sah die Frucht ins Wasser fallen, holte sie heraus und verspeiste sie. Die Feige schmeckte ihm ausgezeichnet.

 

Kar Danah hatte seinen Spaß an dem klatschenden Geräusch gehabt, das erzeugt wurde, als die Feige ins Wasser plumpste. Daher pflückte er gleich zwei neue Feigen, aß die eine auf und warf die andere ins Wasser.

Unter dem Baum aber wartete der Schildkröterich auf die nächste Feige, fischte sie aus dem Wasser und fraß sie auf. Er dachte: Da wirft jemand extra für mich Feigen herunter! Deshalb rief er: „O mein neuer unsichtbarer Freund! Wer du auch immer bist, ich danke dir für diesen Gefallen. Die Dinge, die du für mich herunterwirfst, sind sehr lecker.“

Kar Danah lugte durch das Blätterdickicht hindurch nach unten und sah dort einen Schildkröterich nahe beim Wasser. Er grüßte und rief: „Ich freu mich sehr dich zu sehen. Ich bin es nämlich leid, alleine zu sein. Es ist ein Segen, dass es dich gibt. Ich komme gleich runter damit wir uns aus der Nähe kennenlernen.“

Dann sprang er mit einigen Sätzen vom Baum herunter und sagte: „Grüß dich, lieber Schildkröterich!“

Der Schildkröterich antwortete: „Grüß dich du netter Affe!Nochmals vielen Dank! Wo kommst du denn her? Was machst du hier?“

Kar Danah berichtete über sein Leben und sagte schließlich wieder: „Wie gut ist es, dass ich dich kennen gelernt habe. Ich wäre beinahe vor lauter Einsamkeit durchgedreht.“

Der Schildkröterich erwiderte: „Ich freue mich auch sehr über meine Bekanntschaft mit dir. Ich hoffe wir werden gute Freunde füreinander sein!“

Die beiden hatten sich schnell angefreundet und waren ins Gespräch gekommen. Sie unterhielten sich angeregt über alles mögliche. Der Schildkröterich vergaß dabei völlig seine Familie. So vergingen mehrere Tage.

 

Frau Schildkröte wartete besorgt auf die Rückkehr ihres Mannes und verbrachte schlaflose Nächte. Die Nachbarfrau fragte, warum sie so bekümmert aussieht. Da seufzte Mutter Schildkröte und sagte: „Ich mache mir Sorgen. Mein Mann hat mich und die Kinder vor einigen Tagen alleine gelassen und ist noch nicht zurückgekehrt! Ich weiß nicht, wo ich nach ihm suchen soll!“

Da sagte die Nachbarin: „Aber ich weiß, wo er ist.“

Frau Schildkröte fragte aufgeregt: „Wirklich? Bitte sag es mir!“

Da erklärte die Nachbarin: Vor ein paar Tagen war ich nahe am Ufer. Da saß er dort und unterhielt sich mit einem Affen. Das scheint sein neuer Freund zu sein. Wahrscheinlich ist er wegen seinem neuen Freund nicht nach Hause gekommen!“

Da rief die Schildkröte: „Oh! Ist seine Freundschaft mit diesem Affen denn wichtiger als ich und die Kinder es sind!“ Und dann brach sie in Tränen aus.

Die Nachbarin tröstete die Schildkröte und sagte: „Denk lieber darüber nach, was du machen kannst.“ Dann riet sie der Schildkröte: „Am besten tötest du den Affen. Wenn du ihn tötest, wird dein Mann sich wieder um euch kümmern. Hör! Ich habe eine Idee. Wenn ich deinen Mann herbeigeholt habe, dann stell dich krank. Du sollst stöhnen und jammern! Den Rest werde ich besorgen.“

 

Die Nachbarin verabschiedete sich und machte sich auf den Weg. Als der Schildkröterich sie sah, wunderte er sich. Da rief sie: „Du hast wirklich die Ruhe weg!Seit ein paar Tagen bist du weg und hast Frau und Kinder alleingelassen. Es kann ihnen doch etwas passieren!“

Da wurde der Schildkröterich verlegen und sagte: „Du hast recht. Ich habe gar nicht mehr an meine Familie gedacht. Ist denn etwas passiert?“

Die Nachbarin sagte: „Ja deine Frau ist krank und sie ruft ständig nach dir!“

Als der Schildkröterich das hörte kam er zu sich und sagte: „Gott mög mir verzeihen!“

Dann verabschiedete er sich vom Affen und sagte:

„ Ich muss leider gehen. Aber ich werde dich wieder besuchen!“

Kar Danah, der Affen sagte: „Es tut mir leid. Sag mir Bescheid wenn du Hilfe brauchst. Ich helfe dir gerne!“

Der Schildkröterich bedankte sich und eilte nach Hause zurück.

Beim nächsten Mal erzählen wir, wie es weiterging.