Oct 17, 2022 14:38 CET

Wir betrachten heute weiter das Leben und Werk des iranischen Mystikers und Weisen Sanai. Er lebte im 11. und 12. Jahrhundert nach Christus und nimmt einen bedeutenden Platz in der Farsi-Literatur ein.

Abul Madschd Madschdu ibn Adam Sanai Ghaznawi, kurz Sanai schrieb als erster mystische Poesie in Gestalt von Zweizeilern (Mathnawi) und inspirierte die Mystikdichter Attar und Maulana (Rumi). Nach dem christlichem Kalender wurde er 1080 geboren und verstarb  am 8. Mai 1131, bzw. er lebte gemäß islamischen Mondkalender von Mitte des 5. bis Anfang des 6. Jahrhunderts nach der Hidschra. Seine Ruhestätte steht in Ghazni, welches heute zu Ostafghanistan gehört, aber damals Teil des Irans war. Zu den Werken Sanais zählen der Divan (Gedichtsband), Hadiqat ul Haqiqa, Seyr ul Ibad ila-l Miad, Karnameh Balch, und Mukatib.

Zur Zeit von Sanai herrschten der Ghaznawide Mahmud und seine Nachfolger noch in Ghazni, welches damals Ghazna hieß. Die Hofdichter führten ein vergnügliches Leben. Während sie den Herrschern huldigten, zogen sich die Asketen und Mystiker für das vertrauliche Gespräch zu Gott und seine Preisung in einen stillen Winkel zurückzuziehen. Sanai gehörte zu denen, die das oberflächliche Leben zu Hofe leid wurden.  Seine Denkweise wird bei Betrachtung seiner Gedichte deutlich, insbesondere jener Gedichte, die er nach seiner geistigen Revolution verfasste. Mit dieser Dichtung wollte er alle wachrütteln. Er protestierte gegen die Gedankenlosigkeit der Menschen in seiner Gesellschaft. Sein Aufschrei ist schmerzvoll und erfüllt mit Furcht und Hoffnungslosigkeit ebenso wie mit Tadel. Er sah, womit sich die Leute in seiner Umgebung vergnügten und zufrieden gaben, wunderte sich darüber und ließ seinen Abscheu hören. Wie Naser Chosrau warnte er die Menschen davor, nicht im Strudel des weltlichen Lebens unterzugehen, er kritisierte scharf die Verdorbenheit und erinnerte die Menschen an den Tod: 

پیش از آن کاین جان عذر آور فرو میرد ز نطق
پیش از آن کاین چشم عبرت بین فرو ماند ز کار
در فریب آباد گیتی چند باید داشت حرص
چشمتان چون چشم نرگس دست چون دست چنار

Wie lange noch sind - bevor ihr nicht mehr zu sprechen vermögt

und ihr den Blick für die Einsicht verliert -

die Augen in dieser trügerischen Welt begierig geöffnet

und die Hände begierig ausgestreckt?

                    

Die Gedichte von Sanai lassen sich schnell  in Dichtung vor und Dichtung nach seinem geistigen Wandel ordnen. Die meisten Sanai-Kenner sagen, dass die Gedichte nach der inneren Revolution vom Sinn und der Wirkung her viel tiefgehender sind. Zu Beginn seines dichterischen Schaffens ähnelte seine Dichtung in ihrer Art der Dichtung  von Meistern wie Farruchi und Naser Chosrau. Aber im zweiten Abschnitt seines dichterischen Schaffens entfaltete er sowohl in seiner Ausdrucksweise als in seinem Denken Kreativität und brachte eine Neuerung in die Literatur ein, so dass einige Dichter nach ihm, wie Chaqani, Dschami und Amir Chosrau Dehlawi ihn nachahmten. Besonders seine neuen Inhalte, neuen Sinnbilder und  wohlklingenden neuen Strukturen haben die Aufmerksamkeit bekannter nachfolgender Dichter und Mystiker auf sich gezogen.

Sanai lässt sich als der Begründer einer neuen dichterischen Methode betrachten. Der bekannte Chaqani, der im 12. Jahrhundert nach Christus gelebt hat, nennt seine Methode die Methode eines Asketen. Sanai hat in dieser Art von Dichtung dargelegt, was unter Frömmigkeit und Ein-Gott-Glaube und Mystik zu verstehen ist.

                      

Die wichtigsten Themen in der frommen Dichtung von Sanai sind die Einheit Gottes, ein Lobpreis auf den Koran, die Beschreibung des Propheten, Mahnungen und jene Werte, die vereint als die höchste Moral betrachtet werden. Mit seinem Feinsinn hat Sanai in diesen Gedichten schöne einmalige Inhalte kreiert.

Sanai ist jemand, der über die allgemeine Verirrung und Dreistigkeit erzürnt und sie verabscheut. Er beklagt die Vergnügungssucht und den schäbigen Zeitvertreib seiner Zeitgenossen insbesondere zu Hofe. Aber er kleidet seine Klagen in eine schöne Sprache und in mystische Worte und erinnert die Menschen daran, wie flüchtig das Leben ist.  Sanai kritisiert Politik und Gesellschaft, gibt guten Rat und bedauert die Missstände. Nach Ansicht von Dr. Schafii Kadkani ist er ein hervorragender Dichter und hat es weder vor noch nach ihm seinesgleichen gegeben.


بمیر ای حکیم ! از چنین زندگانی
کزین زندگانی چو مردی بمانی
از این زندگی، زندگانی نخیزد
که گرگ است و ناید ز گرگان جدایی

 

Stirb o Weiser! Stirb den Abschied von dieser vergnüglichen Lebensweise

Dann wirst du bleiben nach deinem Tod

Dieser lustvolle Lebenswandel birgt kein wahres Leben in sich

Er ist wie ein Wolf und Wölfe verabschieden sich nie.

                      

In den Gedichten von Sanai geht es immer wieder um die Vergänglichkeit des Diesseits und die Abkehr vom Weltlichen, die Hinwendung zu hohen menschlichen Werten und darum, dass man weltlichen Gütern gegenüber gleichgültig bleiben soll.

Diese Art von Gedichten werden unter dem Begriff Zuhdiyat zusammen gefasst - Zuhd bedeutet Frömmigkeit und Gottesfürchtigkeit.

Alle Gedichte in dem Werk Hadiqat ul Haqiqa – der Garten der Wahrheit und ein Teil des Divan von Sanai sind Zuhdiyat. Der zeitgenössische Literaturforscher Dr. Abdul Husein Zarinkub sagt über diese Gedichte von Sanai:

Hadiqat ul Hahiqah, auch als Ilahinameh (Buch des Göttlichen) bekannt, ist ein Gedichtband mit zehntausend Doppelversen  über die göttliche Einheit, Mystik und Moral. Mit diesem Buch verfolgt Sanai eine ganz bestimmte Absicht und zwar will er  die Ziele der Mystik lehren, wobei er diese Ziele und seine Gedanken auf phantasievolle dichterische Weise ausdrückt. Hadiqat lässt sich als eine Enzyklopädie der Mystik verstehen, welche in poetischer Form verfasst wurde.“

                          

Sanai gehört zu den großen Meistern der frommen Dichtung und viele Sanai-Forscher sind der Überzeugung, dass sich sein  Wesen und seine Personalität bei diesen  Gedichten abzeichnen. Sie zeigen, dass er eine große religiöse Persönlichkeit war; ein Reformer, der die Heilung der Gesellschaft wollte,  eine Heilung, die bei der Seele und dem Geist des Menschen beginnt. In dieser Gruppe von Gedichten ist Sanai ein Lehrer, der von jeglichen Versäumnissen und jeglicher Niedrigkeit rein ist.  Er trägt in seinem Geiste die Fackel der Gottesliebe und lädt die anderen auch zur Gottesliebe ein. Sanai tadelt die Charakterlosigkeiten und die tierischen Begierden des Menschen und möchte  die anderen auf den Weg führen, der für ihn der richtige Weg ist.

Sanai hat mit diesen Gedichten sein großes Können bewiesen. Es ist ihm gelungen, sehr feine mystische Punkte und religiöse Gefühle auf wunderbare und beste Weise auszudrücken und verständlich zu machen, auch wenn er manchmal dabei Wörter einsetzt, die unpassend erscheinen. Sanai gelang es mystische Dinge, die bis dahin von Chadsche Abdullah Ansari und ein wenig auch von Abu Said Abu-l Cheir und Ahad Dscham in die Dichtung eingebracht worden waren, meisterhaft in poetischer Gestalt darzulegen.  Die Schönheit dieser Dichtung  übertrifft die Poesie der Dichter seiner Epoche und sogar der  Nachfolgezeit. Mit seinem Hadiqat ist Sanai in der iranischen Literatur der erste Dichter, dem es gelang, ein großes Mathnawi – ein Werk mit Zweizeilern – über mystische Themen zu verfassen.

Sie werden im nächsten Teil unserer Sendung noch mehr über Sanai und sein Lebenswerk erfahren.

 

 

 

 

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