Jan 05, 2013 21:30 CET

Bevor wir wieder die Welt iranischer Erzählungen und Märchen betreten, werfen wir kurz einen Blick auf die Merkmale der volkstümlichen iranischen Literatur.

Volksliteratur ist die Literatur der breiten Masse und im Iran ist sie
vornehmlich mündliche Überlieferung. Sie gilt weniger der Unterhaltung als der Bereicherung des Alltagslebens und in ihr spiegelt sich ein Stück gesellschaftlicher Wirklichkeit wieder. Sie ist daher eine realistische Literatur und unverschnörkelt, weil sie aus dem Leben des Volkes gegriffen wurde. Sie will nichts anderes als das Wichtigste wiedergeben. Volkstümliche Literatur muss sich einer einfachen Sprache bedienen, denn sonst kann sie nicht mündlich überliefert werden und würde in Vergessenheit geraten. Daher hat die Volksliteratur jahrhundertelang ihre Einfachheit bewahrt. Ihr Wert hat weniger mit Kunst sondern vielmehr damit zu tun, dass sie mit der Wirklichkeit verknüpft ist. Deshalb kann man sie sogar aus politischer Sicht betrachten. Die iranische Volksliteratur berichtet vom unablässigen Kampf der Bevölkerung gegen unterdrückerische Machthaber und der Suche nach Gerechtigkeit und Freiheit des iranischen Volkes.

 

 

Die Volksmärchen stellen einen großen Teil der Volksliteratur dar. In ihnen treten Helden und Anti-Helden auf. Deren Handeln ist unkompliziert und leicht zu vergegenwärtigen. Die Figuren verändern sich charakterlich kaum, doch werden sie in außergewöhnliche Ereignisse verwickelt. Es sind diese Ereignisse, die das Märchen hervorbringen, ohne dass die Märchenfiguren selber eine Veränderung, zum Beispiel in Form eines inneren Fortschritts, erfahren. Meistens gehen diese Märchen gut aus. Das Gute siegt über das Schlechte. Die Märchen handeln von den Erlebnissen von Königen und Fürsten, Kaufleuten und Frauen und Männern, die zufällig in spannende Situationen geraten, aus denen man etwas lernen kann.

Eine Erzählung oder ein Märchen gilt also dann als volkstümlich, wenn der Inhalt volkstümlich ist. Der Stil muss einfach und der Inhalt allgemeinverständlich und in der Sprache der Märchenerzähler verfasst sein. Die Länge spielt keine Rolle. Ein Volksmärchen kann aus einigen Zeilen oder Seiten bestehen, wie das Märchen von Chaleh Suskeh (Tante Käfer). Es kann aber auch mehrere Bände umfassen wie das fünfbändige Märchen „Samak Ayyar“.

 

Einige Forscher, die sich mit Volksliteratur auseinandersetzen, meinen, dass die Charakterisierung dieser Art von Märchenund Erzählungen mit „volkstümlich“ nicht präzise genug ist. Sie sagen, diese Bezeichnung erfolgte, weil die breite Masse, welche normalerweise lese- und schreibunkundig war, diese Märchen aus den Munde der Erzähler hörte und in diesen Erzählungen ihre Wünsche und Hoffnungen erfüllt sahen. Unterdessen waren diese Märchen aber für die gesamte Bevölkerung bestimmt und nicht nur für das einfache Volk.

 

Die Sprache der Volksmärchen steht der Sprache des einfachen Volkes nahe und enthält viele volkstümliche Ausdrücke, Worte und Sprichwörter. Das wichtigste Moment in den volkstümlichen Märchen sind außergewöhnliche Ereignisse, aber manchmal gewinnt die rationale Wirklichkeit die Oberhand über das Außergewöhnliche und das Märchen nähert sich inhaltlich der Wirklichkeit. Manchmal aber treten derartig viele Zufälle zusammen, dass die Phantasie die Wirklichkeit verdrängt hat.

Forscher sagen, dass die Nähe zur Lebensrealität in den älteren Erzählungen größer ist. In jüngeren Volksmärchen wird öfters einer unlogischen Phantasie freier Lauf gelassen. Die Ursachen dafür sind in der gesellschaftlichen Situation und dem Auf und Nieder der zeitgenössischen Geschichte zu suchen.

 

Nun aber vertagen wir weitere Theorie auf das nächste Mal und bringen ihnen ein konkretes Beispiel. Auch dieses Beispiel ist aus dem Sammelwerk iranischer Märchen entnommen, nämlich dem „Farhang-e Afsanehhaye mardom-e Iran“.

 

 

Ein altes Mütterchen hatte zwei Söhne. Der eine davon war Bürgermeister des Dorfes, der andere war ein Weiser. Der Weise hieß Bohlul. Eines Abends klopfte ein Händler bei der alten Frau an. Die alte Frau öffnete die Tür. Der Händler sagte: „Lässt du mich heute in deinem Hause übernachten?“

Die alte Frau ließ den Händler eintreten. Nach einer Weile fragte der Händler: „Hast du nichts für mich zum Abendessen?“ „Doch“, sagte die alte Frau, „ich habe 10 Hühnereier.“

Der Händler sagte: „Wenn es dir nichts ausmacht, dann koche diese 10 Eier für mich.“ Das alte Mütterchen kochte die Eier und brachte sie auf das ausgebreitete Esstuch. Der Händler verspeiste sie alle und fragte dann: „Mütterchen! Wieviel hat das gekostet?“ Die Frau sagte: „Die 10 Eier machen einen und das Brot einen halben Rial. Alles zusammen anderthalb Rial.“ Der Händler sagte: „Ich bezahle das, wenn ich gehe.“

 

Es war Morgen geworden. Der Händler sah beim Aufwachen, dass die alte Frau schon das Haus verlassen hat. Da dachte er sich: „Ich werde ihr nächstes Jahr, wenn ich wiederkomme, das Geld zusammen mit einem größeren Aufschlag zahlen.“ Dann verließ er das Haus.

Ein Jahr später erschien er wieder vor dem Haus des alten Mütterchen. Er sagte: „Mütterchen! Voriges Jahr warst du nicht zu Hause, damit ich dir die Eier bezahle. Hier sind nun 10 Rial statt anderthalb Rial.“

Die alte Frau nahm das Geld entgegen. Erfreut lief sie zur Nachbarin, um ihr alles zu erzählen.

Die Nachbarin aber sagte:

„Du bist betrogen worden! Wenn du die 10 Eier unter die Henne gelegt hättest, dann hättest du 10 Küken gehabt, die wären groß geworden und jede Henne davon hätte wieder Eier gelegt und du hättest so viel Geld dafür bekommen. Was sind denn 10 Rial! Am besten gehst du sofort zu deinem Sohn, dem Bürgermeister und beschwerst dich!“

 

Das alte Mütterchen ging also zu ihrem Sohn und klagte gegen den Händler. Der Bürgermeister ließ den Händler ins Gefängnis bringen. Zufällig war Bohlul, der Bruder des Bürgermeisters ins Gefängnis gekommen.

 

Bohlul fragte den eingekerkerten Händler: „Was hast du verbrochen?“ Da erzählte ihm dieser alles. Aus seinen Worten entnahm der weise Bohlul, dass es sich bei der alten Frau, von der der Händler erzählte, um seine Mutter handelt. „Da fragte er: „Waren die Eier gekocht oder roh?“ Der Händler: „Sie waren gekocht“. Bohlul: „Dann sei beruhigt! Ich werde dafür sorgen, dass du aus dem Gefängnis kommst.“

Daraufhin ging Bohlul schnurstracks zu seinem Bruder. „Bruder! Gib mir eine Satteltasche Weizenkörner, ich will Weizen anpflanzen!“

Sein Bruder freute sich über diese Bitte und sagte: „Du bekommst gleich zwei Satteltaschen Weizen von mir, lieber Bruder!“

Bohlul nahm die beiden Taschen mit Weizenkörnern, ging zu seiner Mutter und sagte:

„Ich möchte zwei große Töpfe!“

Die Mutter frage: „Was willst du damit machen?“

Er antwortete: „Ich möchte zwei Ladungen Weizen kochen und anpflanzen. Gekochter Weizen geht besser auf.“

 

 

Bohluls Mutter gab ihm zwei große Kochtöpfe und lief dann schnell zu ihrem anderen Sohn, dem Bürgermeister. Aufgeregt erzählte sie ihm: „Dein Bruder ist wirklich nicht mehr bei Sinnen. Er hat die vielen Weizenkörner, die du ihm gegeben hast, nicht ausgestreut, sondern in einen Topf geschüttet . Er will sie kochen und den gekochten Weizen säen!“

Da kehrten Bürgermeister und Mutter gemeinsam eilig zu Bohlul zurück. Der Bürgermeister rief: „Was machst du bloß? Kann gekochter Weizen denn aufgehen?“

Da antwortete Bohlul: „Wenn aus 10 gekochten Eiern Küken schlüpfen können, warum soll dann nicht aus gekochten Weizenkörnern Weizen wachsen?“

Da wusste der Bürgermeister nicht mehr, was er sagen sollte und ließ den Händler frei. Bohlul holte sich 10 Rial bei seiner Mutter und gab sie dem Händler als Entschädigung für den Gefängnisaufenthalt. Der Händler dankte ihm, betete für sein Wohlbefinden und ging.