Jun 23, 2017 14:21 CET

Liebe Hörerfreunde Auch diesmal schauen wir in die Welt der iranischen Literatur und der Sprichwörter hinein. Zu Beginn eine Geschichte aus dem Mathnawi von Molana (Rumi)

Ein alter weiser Mann war in einer fremden Stadt eingetroffen, in der er niemanden kannte. So klopfte er beim nächstbesten Haus an, um zu sehen, ob er dort übernachten kann. Ein alter Mann öffnete die Tür. Er war blind.

 

Der Wanderer wollte schnell Kehrt machen, aber der Blinde hatte ihn bereits gefragt, was er auf dem Herzen hatte. So blieb ihm nichts anderes übrig als seine Bitte vorzubringen:

„Ich bin fremd in dieser Stadt und kenne niemandem, bei dem ich übernachten kann!“

Da sagte der Blinde freundlich: „Komm herein! Gott liebt den Besucher! Mein Haus steht immer für Gäste offen!“

Der Wanderer betrat das Haus. In der Mitte der Wohnstube sah er einen aufgeschlagenen Koran auf einem Koranhalter liegen. Er fragte den Blinden: „Lebst du hier allein?“ Der alte Mann bejahte. Da wunderte sich der Wanderer und dachte: Er ist doch blind und kann nicht lesen. Außerdem lebt er allein. Wieso liegt dann dieser Koran hier aufgeschlagen in der Mitte des Zimmers?

Er hätte den alten Mann gerne nach dem Grund gefragt. Aber er schämte sich: Ich bin ein Gast und sollte mich nicht in die Angelegenheiten meines Gastgebers einmischen!

So schwieg er.

Der Blinde brachte ein Abendessen und danach legten sie sich schlafen. Es war um Mitternacht als der Gast aufwachte. Er hörte jemand auf schöne Weise den Koran lesen. Verwunderte richtete er sich auf. Dann tastete er sich in Richtung der Stimme vor und erkannte den alten blinden Mann, der vor dem Koran saß und den Koran rezitiert. Sofort schöpfte er Verdacht: Vielleicht stellt sich dieser Mann nur blind! Da bemerkte er, wie der Blinde mit dem Finger über die einzelnen Wörter glitt, die er gerade aussprach, obwohl seine Augenlider geschlossen waren. Nun konnte er wirklich nicht mehr mit seiner Neugier zurückhalten und fragte den Blinden: „Du kannst doch nichts sehen! Wie kannst du dann im Koran lesen. Du zeigst sogar mit dem Finger immer genau auf das Wort, das du gerade liest!“

Da verriet ihm der Blinde ein Geheimnis:

„Weißt du! Ich hatte so großes Verlangen danach, den Koran zu lesen und mir seine Verse zu merken. Aber ich vermochte es nicht, weil ich nicht sehen konnte. So habe ich in einer Nacht Gott inständig angefleht, dass er mir hilft.“

Der Gast fragte: „Hat Gott deine Blindheit geheilt?“

Da erwiderte der andere: „Nein! Du siehst doch dass ich blind bin!“

„Ja, das sehe ich“, sagte der Gast „und gerade deshalb bin ich so verwundert!“

Der alte Mann aber sagte: „Ich habe Gott den Erhabenen gebeten mir eine Kraft zu spenden, mit der ich den Koran lesen kann und er hat mein Gebet erhört. Bald darauf erhielt ich eine Inspiration. Ich erhielt die Inspiration, dass ich immer wenn ich mich vor den Koran setze, das Vermögen besitzen werde, den Koran zu lesen, weil ich auf Gottes Großmut gehofft und daran geglaubt habe, dass alles möglich wird, sobald Gott es will.!

Der Wanderer seufzte nur und sagte dann: „ So etwas! Gott ist größer: Allah Akbar“. Da sagte sein Gastgeber: „Wenn den Menschen ein Leid trifft und er dieses als Segen seitens Gott betrachtet, kann er Dinge tun, welche dem Anschein nach nicht möglich sind. Das ist für Gott absolut einfach. Gott ist allmächtig. Er kann dir Trauben aus einem abgebrannten Garten geben und deinen Kummer in Freude verwandeln.“

Da kniete der Wanderer zu Boden, verbeugte sich vor Gott und dankte ihm. Er sagte: „Wehe denen, die sehen können, aber nicht den Koran lesen und diesen großen Segen nicht nutzen.“

Auch in der folgenden Geschichte, mit dem wir den Ursprung eines Sprichwortes erklären wollen, geht es um einen Gast und seinen Gastgeber. Das Sprichwort lautet auf persisch: Gar Geda Kahel Bowad, Taqsir Saheb chaneh tschist?

In einer Stadt lebte ein reicher Mann. Er war bekannt für seine Freigebigkeit und Gastfreundschaft. Sein Haus stand für alle offen. Jeder Bedürftige wusste das und ging in Abständen dort hin, um ein wenig Geld in Empfang zu nehmen oder ein warmes Essen zu erhalten.

Eines Tages kam ein armer Wanderer in diese Stadt. Auf der Suche nach ein wenig Essen gelangte er auch an das Haus des Wohlhabenden.

Das Tor zu dessen Haus stand weit offen.

Der arme Wanderer betrat mit einigen anderen das Haus. Er stellt sich still in eine Ecke, wartete und sah , wie die anderen zur Küche gingen und sich dort Essen holten und das Haus wieder verließen. Dennoch rührte er sich selber nicht vom Fleck. So wartete er zwei Stunden lang und die Mittagszeit verstrich. Viele waren gekommen und hatten, mit einem Teller voller dampfenden Essen in der Hand, das Haus wieder verlassen. Schließlich waren alle wieder gegangen. Da kam der Hausbesitzer. Sein Blick fiel auf den Wanderer, und er fragte ihn, warum er in der Ecke stehe.

Der Wanderer sagte: „Ich bin ein Wanderer, der nichts besitzt und hungrig ist. Die Leute in dieser Stadt haben gesagt, wenn ich zu dir komme, werde ich nicht mit leeren Händen weggehen und bestimmt etwas zu Essen bekommen. Nun stehe ich schon zwei Stunden hier, aber niemand hat mich nach meinem Befinden gefragt und niemand hat mir etwas zu Essen gebracht.“

Der reiche Mann regte sich auf und rief seine Diener: „Warum hat niemand diesen Mann beachtet und ihm zu essen gegeben.“ Die Diener warfen einen erstaunten Blick zu dem Wanderer herüber: „Wir haben ihn nicht bemerkt. Sonst hätten wir ihm doch auch einen Teller gegeben. Er ist nicht zur Küche gekommen, damit wir ihm zu Essen geben.“

Der reiche Mann sagte, sie sollten schnell etwas zu essen bringen.

Er ließ die Diener ein Esstuch ausbreiten, um gemeinsam mit dem Reisenden das Mittagessen einzunehmen. Beim Essen entschuldigte er sich bei dem Mann, dass er nicht beachtet worden war und fragte erneut die Diener, warum sie diesen Gast nicht versorgt hätten!

Da riss einem der Diener der Geduldsfaden und er beschwerte sich: „Statt uns dauernd zu fragen, weshalb wir ihm kein Essen gegeben haben, solltet ihr lieber ihn fragen warum er keinen Ton gesagt hat und nicht wie die anderen zur Küche gekommen ist um sich Essen zu holen. Sind wir schuld, dass er so träge war und sich nicht gerührt hat?“

Das sah der gute Mann ein und er sagte: „Ihr habt recht. Er hätte selber auch einen Schritt tun und etwas sagen können!“

Aus dieser Geschichte ging das Sprichwort hervor: Gar Geda kahel bowad, Taqsir Saheb Chaneh tschist? Nämlich: „Ist der Hausbesitzer schuld, wenn der Bettler faul ist?“ Dies sagt man wenn jemand die Möglichkeiten, die sich ihm in seiner Umgebung anbieten nicht nutzt und deshalb auch nichts erreicht.