In Iran gerühmt, in der Welt berühmt (32 – Scheich Abu Said - 4)
Wir haben den spirituellen Meister Scheich Abu Said des 11. Jahrhundert nach Christus vorgestellt, der in Groß-Chorasan gelebt hat und als erster iranischer Mystik-Dichter gilt. Nun wollen wir etwas näher auf den mystischen Pfad, auf den er seine Schüler (Murid) lenkte, eingehen.
Die Mystik ist ein Weg der zur Wahrheit führt – Sie führt weniger durch logische Argumente dorthin, sondern vielmehr durch Begeisterung, Erleuchtung und Verschmelzung mit der Wahrheit. Zur Erreichung dieser Phasen gibt es bestimmte Praktiken.
In der Mystik bilden religiöse Handlungen die Hauptsache. Zur Erreichung mystischer Erfahrungen ist mit Hilfe von Übungen ein bestimmter Pfad und sind bestimmte Stufen zurückzulegen. Die Mystik wird nach einem praktischen und einen abstrakten Teil unterschieden. Der praktische Teil nennt sich Tariqat (Weg) und besteht aus Anstrengungen, die dazu dienen, höhere Stufen und eine Befindlichkeit zu erreichen, die zu mystischen Erlebnissen und zum Verlangen nach Vereinigung mit der göttlichen Wirklichkeit und Auflösung (fana) des Ichs führt. Der abstrakte Teil der Mystik sind die Beschreibungen der Mystiker über ihre Erkenntnisse und ihr Schauen der Wahrheit und der Wirklichkeit der Welt und des Menschen.
In der Dienstbarkeit Gott gegenüber sehen die Mystiker die Befreiung, d.h. die Loslösung von beiden Welten, dem Diesseits und dem Jenseits, die zur absoluten Liebe zu Gott führt. Abu Said Abu`l Cheir wurde von einem Darwisch gefragt: „O Scheich, was ist die Dienstbarkeit?“ Er antwortete: „Gott hat dich frei erschaffen, sei frei!“ Der Darwisch wollte mehr wissen und Abu Said erklärte:
„Du wirst kein Diener Gottes werden, solange du dich nicht von beiden Welten befreit hast.“
Es ist diese Art von innerer Freiheit welche den wahren Mystiker ziert. Diese Befreiung wird erst dann vollständig, wenn sich der Mensch von beiden Welten geistig unabhängig macht. Diese innere Freiheit tritt deutlich in den Worten von Abu Said Abu`l Cheir und einigen weiteren früheren Denkern zutage.
Der zeitgenössische iranische Literaturprofessor Abdulhusein Zarinkub (verst. 1999) sieht in der Mystik (Irfan) – den Erkenntnisweg jener Meister, die sich - zur Entschleierung der Wahrheit - vor allem auf die Begeisterung und Erleuchtung und weniger auf die Beweisführung stützten. Er nennt diesem einen Weg, den unter den Muslimen in etwa nur die Sufis gehen. Zusammen mit den unterschiedlich bezeichneten mystischen Wegen bei anderen Völkern wird laut Zarinkub heute alles unter dem Begriff „Mystizismus“ zusammengefasst.
Wie die Mystiker Bayazid und Halladsch besaß Abu Said ein mit Gottesliebe erfülltes Wesen. Es gelang ihm meisterhaft eine Brücke zwischen dem Denken und den Praktiken seiner Vorgänger zu den nachfolgenden Generationen von Mystikern zu schlagen und er bewirkte, dass nach ihm Mystiker wie Ain al Quzat, Ghazali und Mulana (Rumi) in Erscheinung traten.
Schafii Kadkani schreibt, dass Abu Said geistig besonders den beiden Mystikern Bayazid und Charqani nahestand. Bayazid war ein Vorgänger des 9. Jahrhunderts nach Chr. und Abul Hasan Charqani war einer der Lehrmeister Abu Saids.
Abu Said betrachtete die Religionen als gleich. Er begegnete den Anführern aller Religion freundschaftlich und tolerant und betrachtete alle Diener Gottes als Brüder.
Ein Mystiker fühlt sich nach Überzeugung von Schafii Kadkani in der Welt wohl, weil er sie erfüllt sieht von der Existenz Gottes, und sein Hauptziel ist die vollständige Versöhnung mit der Welt. Da er immer auf den gemeinsamen Einen Ursprung schaut, nämlich Gott, sind auch alle Religionen für ihn gleicher Natur. In den Augen des Mystikers sind die Anhänger aller Religionen und religiösen Rechtsschulen Diener Gottes, allerdings auf unterschiedlichen Stufen, von denen natürlich der Islam für ihn die vollendete ist. Der wahre Mystiker dient nur der Einen Wahrheit. Er denkt und verhält sich so, dass er keine Konfession und Lehre über eine andere stellt. Überall ist für ihn das Haus der Liebe und er ist davon überzeugt, dass die Liebe zu Gott in allen Köpfen existiert.
Die Zeit, in der Abu Said gelebt hat, nämlich die zweite Hälfte des fünften und das sechste Jahrhundert nach der Hedschra gehört zu den wichtigsten Epochen des Sufismus (Tasawwuf) in Chorasan.
Diese Epoche kennzeichnen fanatische Einstellungen zur Religion und die strenge Haltung der Anführer von Religionsschulen, die Exkommunizierung von Vertretern anderer Rechtsschulen, interne und externe Kriege und Konflikte. Es war in dieser Epoche, dass Abu Said jeglichen religiösen Übereifer wegließ und die Menschen als gleichgestellt betrachtete, die Religion als Lehre der Liebe und Freundschaft vorstellte und seinen Anhänger Menschenliebe lehrte. Er lehrte sie, dass die Gläubigen aller Religionen nach Gott suchen und sich nur darin unterscheiden, auf welche Art und in welcher Sprache sie sich Gott zuwenden.
Durch sein freundliches Verhalten zu den Anhängern aller Religionen, zeigte Abu Said ihnen den Weg Gottes und durch eine solche Menschenliebe und sein Fernbleiben von jeglichem Fanatismus konnte er viele auf den Weg der Wahrheit bringen.
„Als ein Jude vor dem Scheich die Flucht ergriff, folgte ihm dieser. Er legte ihm die Hand auf den Kopf, als er ihn erreicht hatte, und sagte:
`Wie bist du und wie fühlst du dich? Kannst du ohne Ihn (Gott) leben?`
Und als der Scheich wieder ging, folgte der Jude ihm und er wurde ein guter Muslim.“
Der indische Philosoph Krishnamurti (verstorben 1986) sieht im Nationalismus und Rassismus die Ursache für Kriege und empfiehlt sie zu meiden. Abu Said lehrte damals im 11. Jahrhundert nach Christus, dass gemäß der Mystik die Unterscheidung nach Rechtsschule, Abstammung und Geschlecht nur zur Zwietracht und Zersplitterung in verschiedene Gruppen führen. Durch freies Denken und die Gleichstellung der anderen hatte Abu Said sich aus den Fesseln des Rassenstolzes befreit. Er betrachtete niemand aufgrund seiner Hautfarbe oder ethnischen Abstammung oder Herkunft als besser als andere, sondern für ihn war das Kriterium für den besseren Menschen die Menschlichkeit, Wohlwollen, Gott-Dienstbarkeit und Nächstenliebe.
Von Kadbanu Mahak, der Tochter des Sufi-Scheichs Hamuwayh wird folgende Episode überliefert:
„Einmal saß der Scheich unter den Leuten und sprach zu ihnen. Er war in ein rötliches Gewand gekleidet, trug ein weißes Tuch um den Kopf und sein Gesicht war rosig. Er sprach und ich hörte ihm zu und schaute ihn an.
Da sagte ich zu mir: `Gibt es auf der Welt noch einen Diener Gottes, des Gepriesenen und Erhabenen, der besser als unser Scheich wäre?` Wie mir dieser Gedanke so durch den Kopf ging, wandte sich der Scheich an mich und sagte: `Mah! Denke das nicht. Wenn du die Antwort kennen willst dann sieh dorthin`, wobei er auf einen Baum zeigte. Ich schaute hin und sah einen Jüngling bei dem Baum stehen. Er war dunkelhäutig, dürr und schwach – ganz im Gegenteil zu der Erscheinung des Scheichs. Aber er hörte gut dem Wort des Scheichs zu. Ich dachte bei mir: `Wieso hat der Scheich mich auf ihn hingewiesen`? Da sage der Scheich: ` Mah! Komm zu dir!` Da kam ich zu mir und der Scheich sagte:
`Ein Haar dessen, den du da siehst, ist bei Gott dem Gepriesenen und dem Erhabenen mehr wert als das Diesseits und Jenseits und alles was es im Diesseits und Jenseits gibt. Sieh, das was du da denkst, sollst du ebensowenig denken, denn es gibt Diener Gottes, von denen der eine die Farbe des Pfaus und ein anderer die Farbe eines Raben hat`.“
Abu Said hat jene Gelehrten, die Asketen und Koranrezitatoren seiner Zeit kritisiert, wenn sie stolz waren.
Im Asrar ul Tauhid steht folgende Episode:
Der Chadscheh Imam Muzafar Hamdan sagte einmal in Nuqan:
„Wir haben mit Scheich Bu Said soviel zu tun wie eine Kelle Arzan (Hirse) -
eines der Körner darin ist Scheich bu Said
und der Rest bin ich.“
Als einer der Schüler dem Scheich davon erzählte, sagte der Scheich:
„Sag dem Chadsche Imam Muzafar, dieses eine Korn bist du und wir sind nichts.“
Mit diesen Worten zeigte Abu Said, dass ihm die Kritik nichts ausmachte und er innerlich frei war.
Es war seine Art, den anderen ihr falsches Benehmen zu vergeben und er lehrte diejenigen, die ihm folgen wollten, ein würdiges Verhalten.
An dem Lebenswerk des Abu Said ist zu sehen, dass sein freies Denken auf die Gleichstellung der anderen und Liebe zu allem Dasein, seinem Blick für das Gute und Schöne und seine Abstinenz von jeglicher Schau, Nachahmung und schlechter Gewohnheit zurückgeht. Dadurch, dass der Mystiker alle im gleichen Licht sieht schaut er über Fehler hinweg und vergibt sie. Abu Said hat dieses Prinzip praktiziert und daher hat er niemals und nirgendwo jemanden benachteiligt.
Damit gehen unsere Ausführungen über diesen iranischen Mystiker zu Ende.