Feb 11, 2017 16:41 CET

Wir begrüßen Sie zu einem weiteren Teil unseres Beitrags über die Volksliteratur. Wie immer beginnen wir mit den theoretischen Ausführungen. Danach folgt ein Beispiel aus der iranischen Volksliteratur.

Wir haben bereits mehrere Strukturmerkmale der Fabeln angeführt . Ein weiteres Strukturmerkmal  ist die Handlung von Fabeln, d.h. der Ereignisverlauf. Die Handlung ordnet normalerweise auf logische Weise den Zusammenhang zwischen den Ereignissen einer Geschichte.  Aber in manchen Fabeln mangelt es an der Logik.    Zwar gibt es eine Summe von Ereignissen, die einen Kausalzusammenhang bilden,  aber die Ereignisse selber sind in sich irreal. Die Handlungsmotive der Tierfiguren sind dennoch meist leicht einzusehen, weil sie  der Wirklichkeit in der Natur entsprechen. Zum Beispiel braucht in einer Fabel nicht gesagt zu werden, warum ein Wolf ein Schaf angreift, oder ein Fuchs sich einen Hahn einfangen will.

Allgemein erwarten wir von einer Geschichte, ob nun Tiere oder Menschen darin auftreten, dass sie logisch erscheint. Wir erwarten , dass eine Ähnlichkeit zum  menschlichen Leben vorliegt und möglicherweise empfinden wir es als störend,  falls diese Erwartungen durch die Beschreibungen und die Figuren einer Geschichte nicht erfüllt werden.

 

In den meisten Tierfabeln behält der Erzähler oder Autor die Erwartungen seiner Zuhörer oder Leser im Auge. Bei der Wiedergabe einer Geschichte,  lässt er wahlweise einige Ereignisse wegfallen und konzentriert sich auf einen Teil des Ereignisverlaufes. Er versetzt sich in die Rolle seines Zuhörers oder Lesers  und beleuchtet die Geschichte auf eine Weise, dass sie für diesen verständlich wird.  Der Erzähler von Fabeln malt nach Belieben einige Stellen im Ereignisverlauf mehr aus als die anderen und erwähnt auch die Handlungsmotive der Figuren.

 

Manchmal achtet er aber nur auf das Geschehn und nicht auf die Figuren und so entsteht in gewisser Weise Unklarheit über die Handlung der Geschichte.  Dies stellen wir bei der Mehrheit der  Erzählungen in den Werken von Sanai und Attar fest. Aber die gleichen Geschichten nehmen bei Maulana Rumi  eine logische Form an und sind nicht mehr unklar.

Als Beispiel kann die Geschichte vom Elefanten herangezogen werden, die in den meisten Büchern wie folgt wiedergegeben wird:

„An der Grenze von Ghor lag eine Stadt, in der alle blind waren. Ein König durchzog diese Stadt. Er hatte einen großen Elefanten. Die Leute hatten über den Elefanten gehört und setzten sich in Bewegung, um zu erfahren, was ein Elefant überhaupt ist. Weil sie allen blind waren, nutzten sie ihren Tastsinn, um sich einen Eindruck zu machen. Jeder tastete einen anderen Teil des Elefantenkörpers ab und beschrieb den Elefanten gemäß seiner persönlichen Erfahrung. Zum Beispiel verglich derjenige, der ein Bein des Elefanten abgetastet hatte, das Tier mit einer Säule.“

 

Aber Maulana Rumi bringt die Geschichte in seinem Mathnawi in veränderter Gestalt. Um sie logischer zu machen, schaltet er die Unklarheiten in der Handlung aus, wie zum Beispiel, dass eine ganze Stadt blind sein soll.  Er erzählt, dass sich der Elefant, den die Inder  mitgebracht hatten, in einem dunklen Stall befand. Die Leute in der Stadt waren nicht blind, sondern sie konnten den Elefanten nur mit den Händen abtasten, weil es im Stall zu dunkel war.

Der Rest der Geschichte verläuft dann bei Maulana genauso wie im Original.

Bei dem Ereignisablauf in Fabeln  ist auf eine realistische Darstellung zu achten.  Dem  Verhalten  der Tierfiguren in der Fabel müssen die  tatsächlichen Zustände und Abläufe in der Tierwelt  zugrundegelegt werden. Wie zum Beispiel ihre Fress- und Schlafgewohnheiten, ihr Verhältnis zu anderen Tieren und ihre Bedürfnissen. Diese Merkmale der Tierfiguren einer Geschichte müssen mit der realen Tierwelt in Übereinstimmung stehen, da anderenfalls die Geschichte den logischen und gewohnten Rahmen verlässt.  Wenn zum Beispiel in einer Fabel  ein bestimmtes Tier nicht von einem bestimmten anderen Tier gejagt und gefressen wird, obwohl das in der Natur der Fall ist, so schadet dies der Geschichte. Zur Veranschaulichung kann man die  Geschichte vom Kamel, der Kuh und dem Widder im Mathnawi von Maulana mit einer ähnlichen  Geschichte im Sindbad-Nameh vergleichen, wo  der Wolf, der Fuchs und das Kamel sich zusammengeschlossen haben.

In der Geschichte im Mathnawi passen die Pflanzenfresser  Kamel, Kuh und Widder zueinander. Auch handeln diese drei Tierfiguren im Verlauf der Geschichte entsprechend dem Bedürfnis und der Motivation ihrer Charakteren. Die Handlung der Geschichte deckt sich in dieser Hinsicht bei Maulana mit der Wirklichkeit. Aber im Sindbad-Nameh sehen wir, dass Wolf, Fuchs und Kamel ein Bündnis schließen, und dieses Bündnis ist fragwürdig.  Dieser unlogische Aspekt überschattet  auch die anderen  Bestandteile der Geschichte und schmälern die Wirkung der Fabel.

Unsere Geschichte von heute ist die Geschichte „Seh Mahi“. Die Geschichte von den drei Fischen, aus Kalila wa Dimna.

In einem Teich lebten drei schöne fette Fische. Eines Tages kamen mehrere Fischer an dem Teich vorbei. Sie hatten aber keine Netze dabei. Als sie die ansehnlichen Fische sahen, beschlossen sie mit einer geeigneten Fangausrüstung zurückzukehren.

Die Fische aber hatten gehört, was sie sagten und wussten, sie dürfen nichts verzögern und müssen einen Rettungsweg finden.

Einer der drei Fische war sehr klug, ein anderer nicht so sehr und der dritte war völlig unvernünftig.

 

Der kluge Fisch dachte: Ich muss mich vor diesem Unheil retten und ins Meer schwimmen. Doch er beschloss, den anderen nichts davon zu erzählen. Er hatte nämlich Angst , dass sie ihn wegen der langen und schwierigen Reise bis zum offenen Meer davon abhalten würden.

So machte er sich heimlich auf den Weg, überwand alle schwierigen Stellen unterwegs und erreichte schließlich das offene Meer. Er hatte sich also vor der düsteren Gefahr in Sicherheit gebracht.

Der zweite,  nur halb so kluge Fisch sah die Fischer und ihre Fangnetze kommen und wusste, die Gefahr naht heran. Er hatte gemerkt, dass der kluge Fisch weggeschwommen war und machte sich Vorwürfe, dass  er dies nicht auch getan hatte . Aber dafür war es inzwischen zu spät, er hatte nur noch wenig Zeit und die durfte er nicht mit Kummer vergeuden. Ich muss mir schnell überlegen, wie ich mich retten kann, dachte er, und dann kam er auf die Idee: Ich stelle mich tot und lass mich auf dem Rücken durchs Wasser treiben. Die Fischer werden mich dann in Ruhe lassen.

 

Als die Fischer den Fisch leblos auf dem Wasser treiben sahen, fingen sie ihn mit ihrem Netz ein. Aber weil sie glaubten er sei tot, warfen sie ihn ans Ufer und gingen. Da wand sich der Fisch so lange hin und her, bis er wieder ins Wasser zurückgelangte und fand auf diese Weise Rettung.

 

Der dritte Fisch, der dumm war und nicht überlegt hatte, geriet in Aufregung, als er die Fischer am Ufer sah. Erschreckt schwamm er hin und her, um vielleicht der Gefahr zu entkommen. Aber die Fischer fingen ihn ein.

Auch im Netz sprang der Fisch wieder auf und ab und suchte zwischen den Maschen nach einer Stelle, an der er  vielleicht hinausschlüpfen könnte.  Doch seine Mühe war umsonst und schließlich hatte er keine Kräfte mehr und blieb erschöpft und verwundet im Netz hängen. Bevor er den letzten Atemzug tat sagte er sich noch: Wenn ich diesmal den Fischern entkomme und gerettet werde, werde ich zum Meer schwimmen und dort  ein sicheres Leben führen. Aber es war nichts mehr zu machen.

Der Fisch starb im Netz der Fischer.

Diese rösteten  ihren Fang über dem Feuer und verspeisten ihn.