Feb 13, 2017 10:26 CET

Wir besprechen weiterhin die Fabeln, einen beliebten Bestandteil der Volksliteratur.Insgesamt begegnen wir bei Fabeln 4 verschiedenen Figuren, nämlich Menschen, Tieren, Pflanzen und – wenn auch selten - personifizierten Gegenständen.

Manchmal tauchen in den Fabeln auch überirdische Wesen, wie Feen und Dämone auf.

 

Die Figuren in Tierfabeln haben allegorischen Charakter, d.h. sie  werden  vom Autor als Sinnbild für bestimmte Menschentypen  oder das Denken und Wesen von Menschen  benutzt.

Zum Beispiel verbildlicht der Wolf einen blutrünstigen Menschen und der Affe ist Symbol für Unwissenheit,  Hässlichkeit, blinde Nachahmung und Schamlosigkeit.

Der Verfasser von Fabeln zieht die allegorischen Figuren heran, um anhand eines Beispiels, einen komplizierten moralischen oder mystischen Begriff  zu erklären.

 

Nicht immer handeln die Tiere in Fabeln gemäß ihrer realen Natur. Wenn sie Dinge tun, die nur im Reich der Menschen vorkommen, wie zum Beispiel sich beraten, usw. dann kann die gesamte Erzählung als eine Allegorie gelten.

Und zwar spielt der Erzähler auf die zwischenmenschlichen Beziehungen an.  

Eifersucht und Machtbestrebung oder Heimtücke, die in den Erzählungen in Kalila wa Dimna zusammen mit den kühnen Taten der Helden  vorkommen, stellen für den  Leser und Zuhörer  von Beginn an den Bezug zur  menschlichen Welt her.

In einigen wenigen  Fabeln handeln die Tierfiguren gemäß ihrer Natur  , während der Mensch etwas in ihr Verhalten hineininterpretiert. Wie zum Beispiel in der Geschichte vom Hund, der einen Knochen im Maul hält. Er erblickt sein Spiegelbild mit dem Knochen im Wasser, lässt den reellen  Knochen fallen und sich den imaginären zu schnappen, und verliert infolge dessen, das, was er besitzt.    

Aber solche Erzählungen kommen in der Fabelwelt sehr selten vor. Insgesamt handeln die Figuren in Fabeln nicht gemäß ihrer Natur sondern schlüpfen in die Rolle von Menschen, deren Handeln und Denken in gewisser Weise zu der jeweiligen Tiergestalt passt.

Es folgt nun die Geschichte von der Ziege mit dem Glöckchen am Bein : Bos-e Sanguleh Pa. Diese Geschichte existiert in unterschiedlichen Varationen im Volksmund vieler  Völker. Sie werden daher Ähnlichkeit mit „Der Wolf und die 7 Geißlein“  aber auch Unterschiede dazu finden.  Im Iran ist diese Geschichte  unter dem Titel „Schangul wa Mangul“ bekannt.    

Da gab es einmal eine Ziege, die hieß Sanguleh Pa. Diese Ziege hatte drei Zicklein: Sie hießen Schangul, Mangul und Habe Angur.  Sie lebten zusammen mit ihrer Mutter in einem Haus nahe  einer Weide.

Eines Tages hörte die Ziege, dass ein reißender Wolf sich ganz in der Nähe niedergelassen hat. Sie riet  ihren Kinder: „Wenn jemand an die Tür klopft, schaut durch das Schlüsselloch und wenn ich es bin, dann macht die Tür auf. Aber macht sie nicht auf, wenn es der Wolf oder Schakal ist!“

Die Ziege verabschiedete sich von den Zicklein.

Es verging eine Stunde. Da kam der Wolf und klopfte an.

Die Kinder riefen: „Wer klopft da an?“

Der Wolf: „Ich bin`s – eure Mutter!“

Die Kinder riefen: „Du lügst, unsere Mutter hat eine helle und schöne Stimme.“

Der Wolf ging und kehrte nach einigen Minuten zurück. Wieder klopfte er an und wieder fragten die Zicklein: „Wer klopft da an?“ Da sagte der Wolf mit verstellter Stimme: „Ich bin`s, eure Mutter, ich habe euch etwas zu essen mitgebracht!“

 

 

Da schauten die Kinder durchs Schlüsselloch und riefen: „Du lügst! Unsere Mutter hat weiße Hände aber deine Hände sind schwarz!“

Der Wolf rannte zur Mühle und steckte seine Tatze in einen Mehlsack damit sie weiß aussieht.

Dann kam er zurück und sagte dasselbe wie vorher.

Aber wieder schauten die Zicklein durch das Schlüsselloch und riefen: „Du lügst: Unsere Mutter hat rote Füße aber deine Füße sind nicht rot!“

Da lief der Wolf schnell weg und steckte seinen Fuß in Henna, kam wieder zurück  und sagte dasselbe wie vorher.

Diesmal fielen die Kinder auf seine List herein, sie öffneten die Tür und der Wolf sprang ins Haus.

Der Wolf frass Schangul und Mangul auf, aber Habe Angur konnte fliehen und versteckte sich. 

Nahe vor Sonnenuntergang kehrte die Ziege Sanguleh Pa zurück.  Sie sah die Haustür offen stehen.  Da begann sie, die Kinder zu rufen, aber keiner antwortete ihr. Nur Habe Angur kroch  hervor und erzählte seiner Mutter von dem großen Raubtier.

Die Ziege ging zum Wolf und stieg auf das Dach von seinem Haus.  Der Wolf stand unten und kochte gerade Eintopf für seine Kinder.   Da begann die Ziege auf dem Dach des Wolfes auf und ab zu springen.  

Der Wolf steckte den Kopf heraus und rief: „ Wer trampelt auf meinem Dach herum?  Es fällt lauter Staub in meinen Eintopf!“

Die Ziege rief: „Ich bin`s, ich bin`s, die Ziege Sanguleh Pa. Ich springe mit beiden Füßen hoch und runter: Vier Hufe auf dem Boden, zwei Hörner in der Luft.

Wer hat mein Schangul gestohlen? Wer hat mein Mangul gefressen? Wer kommt und kämpft mit mir?“

Da antwortete der Wolf: „Und ich bin der Wolf mit seinen scharfen Zähnen.  Ich hab dein Schangul gefressen, ich habe dein Mangul gestohlen! Ich komme und kämpfe mit dir!“

Die Ziege rief: „Und wann kommst du mit mir kämpfen?“

Der Wolf antwortete: „Am Freitag.“

Die Ziege ging erst nach Hause und dann auf die Weide, um tüchtig Gras zu fressen.

Am nächsten Tag ging sie zum Schleifer und sagte: „Schleif mir meine Hörner!“ Der Schleifer machte zwei stählerne Hörnerspitzen und setzte sie den Hörnern der Ziege auf.

Der Wolf aber ging zum Dalak, dem Bademeister,  und sagte: „Schärfe mir die Zähne!“ Der Dalak sagte: „Wo ist denn mein Lohn?“

Da holte der Wolf aus seinem Haus einen großen Beutel, blies ihn auf und brachte ihn dem Dalak und sagte: „Hier das ist dein Lohn.“ Als der Dalak den Beutel aufmachte, sah er dass nur Luft drin war.  Aber er ließ sich nichts anmerken, sondern dachte bei sich: „Ich werde es die zeigen.“

Dann nahm er seine Zange,  zog dem Wolf alle Zähne aus und steckte ihm anstatt der Zähne Watte in den Mund.

Schließlich war es Freitag geworden und der Wolf und die Ziege trafen zum Kampf zusammen. Aber  sie wollten beide vorher noch Wasser  trinken.

Die  Ziege aber tauchte nur die Schnauze ins Wasser und trank nichts.  Aber der Wolf soff soviel, dass sich sein Magen aufblähte. Dann kam er auf den Kampfplatz und begann große Sprüche zu machen.

Aber die Ziege kam mit den stählernen Hörner und mit hoch erhobenen Kopf. Da sagte der Wolf: „Du willst mich wohl einschüchtern, wie?! Jetzt kannst du etwas erleben!“

Er machte einen Satz, um die Ziege an der Kehle zu packen, aber da fielen ihm alle Zähne aus, denn sie waren ja aus Watte.

Die Ziege  aber verpasste nicht die Gelegenheit. Sie nahm Anlauf  und rammte dem Wolf ihre  Hörner in die Flanke. Dann riss sie mit der Hornspitze dem Wolf die Flanke auf und Schangul und Mangul kamen aus dem Bauch des Wolfes hervorgesprungen.

Mama Ziege nahm Schangul und Mangul nach Hause. Dann rief sie Habe Angur und sagt:  „Kinder! Ab jetzt seid klug. Ihr müsst den Feind vom Freund  unterscheiden und dürft keinem  Bösewicht die Türe öffnen!“