Feb 13, 2017 10:33 CET

Wir besprechen auch heute weitere Merkmale der Fabel , welche eine wichtige Art der iranischen Volksliteratur ist.Im letzten Beitrag betrachteten wir die Figuren, die in solchen Erzählungen auftreten; nun aber mehr zu den typischen Ereignissen in Fabeln.

Meistens geht es in Fabeln um einen Konflikt. Zum Beispiel wird der Schwächere vom Stärkeren getötet oder jemand verdrängt einen anderen von seinem Platz. Gegenstand des Streites kann ein Beutestück sein. Manchmal geht es auch darum, dem anderen einen Rang abstreitig zu machen. Oftmals wird listig vorgegangen.

Die Art der Handlungen passen zu dem Wesen der Tierfiguren. Der Streit kann die Haupthandlung einer Fabel sein oder auch zu den Randereignissen gehören.

 

In den meisten Fabeln dreht es sich um einen Konflikt zwischen Feinden und um natürliche Feindschaft. Aber manchmal ist ein dritter Faktor, wie das Interesse an der gleichen Sache oder die Gegenwart eines Fremden, der Anlass zum Streit. Die Wesensart der Tierfigur, das Handlungsmotiv und die Handlung selber sind die wichtigsten Strukturelemente solcher Geschichten.

Was bei Fabeln auffällt ist folgender Punkt: Die Hautpfiguren sind zwar Tiere und ihre Handlungsmotive stimmen mit deren jeweiligen Natur überein. Aber ihr Handeln, d.h. der Weg, auf dem sie zum Beispiel ein Bedürfnis zu decken oder ihr Ziel zu erreichen versuchen, kommt der menschlichen Handlungsweise nahe. Zum Beispiel ist Hunger wie beim Menschen auch beim Tier ein Bedürfnis. Das Handlungsmotiv „ den Hunger stillen und an Nahrung gelangen“, kommt daher immer wieder in den Fabeln vor. Jedoch streben die Tierfiguren auf andere als ihre natürliche Weise nach Sättigung und ihre Handlungen und Bestrebungen erinnern oft an die menschliche Art. Zum Beispiel täuscht in einer Fabel eine hungrige Schlange in der heißen Wüste vor, sie sei ein trockener Stock, um Insekten heranzulocken. Oder ein Reiher, der alt und schwach geworden ist, besorgt sich seine Nahrung durch Täuschung seiner Opfer . In beiden Fällen bestehen jedenfalls Parallelen zu menschlicher List und Tücke.

Auch wenn das Verhalten der Figuren in Fabeln nur annähernd dem menschlichen Verhalten ähnelt, so trägt es dennoch dazu bei, das bestimmte Tiere zum Sinnbild für eine menschliche Personalität mit bestimmten Eigenschaften geworden sind. Zum Beispiel werden List und Tücke meistens in der Gestalt des Schakals und Fuchses veranschaulicht. Der Wolf ist Sinnbild für Brutalität , der Tiger für Rachlust und die Schlange für Boshaftigkeit. Unterdessen symbolisiert die Ameise Genügsamkeit und Fleiß und das Kamel Gehorsam. In etwa stimmen die Eigenschaften und Art der Fabelfiguren also mit der tatsächlichen Natur dieser Tiere überein.

 

Doch nun zu unserer heutigen Geschichte. Es ist die Geschichte vom Reiher. Sie stammt aus dem Buch Kalila wa Dimna.

Ein Reiher saß an einem See und sah den vielen kleinen und großen Fische im Wasser zu. Weil er schon sehr alt und schwach war, konnte er sich jedoch noch nicht einmal einen von den kleinen Fische fangen. Wenn das so weiter ging, würde er bald verhungern. Während er also begierig ins Wasser starrte, kam ihm der Gedanke, dass er seinen Hunger nur dann stillen kann, wenn er sich eine List ausdenkt.

Der Reiher ging zum Haus des Krebses, setzte sich hin und begann zu jammern.

Der Krebs fragte: „Warum bist du so bekümmert?“

Da sagte der Reiher zum Krebs:

„Das hat seine Gründe! Die Fische im See tun mir sehr leid. Weißt du: Heute kamen zwei Männer vorbei und als sie die vielen Fische gesehen haben, haben sie abgemacht, in ein paar Tagen zurückzukommen und sie alle einzufangen.“

Der Krebs erzählte den Fischen von der Geschichte . Die waren ganz erschrocken . Einer sagte: „Was machen wir jetzt? Wir können doch diesen See nicht verlassen. Der einzige der uns helfen kann, ist der Reiher. Wir müssen ihn um Hilfe bitten!“

Da kamen die Fische zusammen mit dem Krebs ans Ufer geschwommen, um sich mit dem Reiher zu beraten.

Der Reiher freute sich natürlich beim Anblick der Fische. Anscheinend ließ sich der Plan, den er geschmiedet hatte, durchführen.

Die Fische fragten ihn:

„Was meinst du, wann die Fischer kommen werden?“

Der Reiher antwortete: „So genau weiß ich das nicht, aber ich glaube in ein, zwei Tagen werden sie hier sein!“

Die Fische baten: „Kannst du uns nicht helfen?“

Der Reiher hatte auf diesen Vorschlag gewartet und zeigte sich hilfsbereit: „Ja, natürlich helfe ich euch. Wir sind zwar Feinde, aber in der Not müssen wir einander helfen. Ich kenne noch einen anderen See, der nicht weit von hier liegt und wo kein Fischer hingelangen kann. Ich kann euch dort hintragen. Aber es geht nicht, dass ich euch alle auf einmal dort hinbringe, denn ich bin alt und schwach.“

Die Fische freuten sich. Sie waren froh, dass der Reiher sie zu dem anderen See bringen will. Der Reiher machte sich also ans Werk. Zweimal am Tag nahm er einige Fische , flog mit ihnen davon und frass sie dann auf.

Das ging so einige Tage lang und der Reiher brauchte nicht zu hungern.

 

Schließlich sagte der Krebs zum Reiher: „Weißt du, ich würde gerne auch an den anderen See und meine Freunde wiedersehen. Kannst du mich nicht dorthin bringen?“

Da dachte der Reiher: Der Krebs scheint sich Gedanken über die Fische zu machen. Es kann sein, dass er die anderen Fische, die noch hier im See sind, misstrauisch stimmt. Am besten bringe ich ihn fort und mache ihm den Garaus. Dann kann er mir nicht mehr in die Quere kommen!

Der Reiher sagte zum Krebs: „ Komm, du kannst gerne meinen Rücken besteigen. Ich bring dich zu dem anderen See.

Wir sind in einer Stunde wieder zurück.“

Der Krebs bestieg also den Rücken des Reihers und der Reiher flog in die Höhe. Er wollte den Krebs an einen entfernten Ort tragen und ihn dann von oben abwerfen.

Aber der Krebs war klüger als er.

Er hatte von oben aus der Luft am Fuße eines Hügels viele Fischgräten gesehen und begriffen, dass der listige Reiher die armen Fische alle aufgefressen hatte, anstatt sie in Sicherheit zu bringen.

Nun wusste er, dass auch sein eigenes Leben in Gefahr war. Da beschloss er, es dem Fischreiher heimzuzahlen . Er klammerte sich um den Hals des Reihers und bohrte ihm seine Zangen ins Fleisch. Der Reiher bekam keine Luft mehr und erstickte.

Reiher und Krebs fielen zu Boden. Nachdem der Krebs ganz sicher war, dass der Reiher tot ist, ließ er von ihm ab und eilte zu den Fischen zurück, um ihnen von der List des Reihers und seinem Tod zu berichten.

Die anderen Fische waren betrübt, weil sie ihre Freunde verloren hatten. Aber sie hatten etwas Wichtiges dazu gelernt, nämlich dass man einem Feind nicht vertrauen darf und ihm nicht glauben soll, wenn er behauptet, er wolle helfen und meine es gut.